Gute Krimis sind wie ein raffiniert konzipiertes Labyrinth: mit Irr- & Umwegen, Sackgassen, Finten und bösen Überraschungen. Im besten Fall ist die Lösung aus Sicht des Publikums ebenso verblüffend wie für die ermittelnden Hauptfiguren, aber würde die Kamera in die Vogelperspektive wechseln, wäre der Pfad zum Ziel völlig plausibel. Thriller beginnen gern in Sichtweite dieses Ziels, konfrontieren Held*in jedoch mit einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis – und blenden dann zum Start zurück. Bei „Mord in der Familie“ funktioniert die Auftaktdramaturgie so ähnlich und doch ganz anders: Der Held stirbt, am Neujahrsmorgen. Anstelle eines Zwischentitels („Drei Wochen vorher“) folgt der Blick auf einen Abreiß-Kalender: Nikolaus. Der drei Minuten lange Prolog ist ein Versprechen, das die knapp 180 Minuten mehr als erfüllen werden. Die roten Farbtupfer – ein aufblasbarer Weihnachtsmann, ein alter Porsche, eine Frau im Abendkleid – stehen für die kleinen Knüller, die die ungemein geschickt verschachtelte Handlung immer wieder zu bieten hat. Ihr eigentlicher Reiz resultiert jedoch aus ihrer Vielschichtigkeit: Mit Ausnahme eines kleinen Jungen ist zumindest von den zentralen Figuren niemand ohne Schuld, weshalb es auch keine Guten und Bösen gibt.
Foto: ZDF / Wolfgang Ennenbach
Was als Krimi beginnt, ist in Wirklichkeit eine Familientragödie: Vor einigen Wochen ist ein Neubau eingestürzt, zum Glück noch vor der Eröffnung; allerdings ist eine Putzfrau gestorben. Dieser „Würfel“ war das Prestigeprojekt des Kölner Traditionsunternehmens Becker & Sohn. Genau genommen hat Henry Becker (Heiner Lauterbach) zwei Söhne, und weil das Bauunglück den Ruf der Firma zu ruinieren droht, muss einer von beiden seinen Kopf hinhalten: Eric (Lucas Gregorowicz), der als Bauingenieur für die Statik zuständig war, oder Thomas (Matthias Koeberlin), der die Materialbeschaffung verantwortet. Die Berechnungen sind korrekt, also war vermutlich minderwertiger Stahl die Ursache für die Katastrophe. Becker bittet Eric, die Schuld auf sich zu nehmen, denn eine Schlamperei beim Baustoff würde als fahrlässige Tötung gelten, und Thomas müsste ins Gefängnis. Zum Dank würde er ihn zum Geschäftsführer machen. Diesen Posten stellt er allerdings auch Thomas in Aussicht. Wenn es um das Wohl der Firma geht, kennt der Alte keine Verwandten.
Produzentin Kim Fatheuer zur Genese des Zweiteilers:
„2014 hat eine befreundete Producerin für uns auf einem Pitching, das die schwedische Kulturarbeitsvermittlung jährlich in Berlin veranstaltet, nach Stoffen Ausschau gehalten und uns die zusammengefassten Texte dazu weitergegeben. Linda Ungs Pitch hat uns sofort begeistert, weil die Erzählweise so mutig war, die Figuren so plastisch und die Geschichte gut nach Deutschland passte. Es gab bereits ein in Norwegen gefördertes Pilotdrehbuch zu der auf 6 x 45‘ angelegten Serie. Nach den ersten Übersetzungen vom Schwedischen ins Deutsche, haben wir dann auf Englisch entwickelt und nach langer Überlegung entschieden mit dem ZDF zusammen einen Zweiteiler, bzw. 4 x 45 Minuten, daraus zu machen.“
Foto: ZDF / Wolfgang Ennenbach
die AA-Bekanntschaft des alkoholkranken Thomas ist ganz schön durch den Wind.
Henry Becker ist also ein Mann, dem das Drehbuch der schwedischen Autorin Linda Ung diverse Negativklischees eines Patriarchen anhängt: gerissen, skrupellos, überheblich; und so selbstsüchtig wie alle anderen Familienmitglieder. Heiner Lauterbach tut außerdem alles, um etwaige Sympathien im Keim zu ersticken. Und doch bekommt das Bild Risse, denn der Witwer hadert mit einer Rolle, die er sich nicht ausgesucht hat; Familie, stellt er irgendwann selbstmitleidlos fest, „ist eine Wunde, die niemals heilt.“ Ausgerechnet ihm gönnt der Film einen versöhnlichen Schluss. Wie die Geschichte für Thomas endet, ist bekannt: Er wird gleich zu Beginn in seinem Sportwagen erschossen. Eric ist zwar ein tragischer Held, aber möglicherweise auch der Mörder seines Bruders, dem er schon immer das Leben auf der Sonnenseite geneidet hat, denn er selbst ist nur das Ergebnis eines Seitensprungs.
Während sich die ersten neunzig Minuten auf das Männertrio konzentrieren und sich mehr und mehr zeigt, dass es in dieser vermeintlichen „Kain und Abel“-Geschichte gar keinen Abel gibt, selbst wenn Eric seinen Vaterhass auf den Bruder projiziert, wird der zweite Teil von zwei Frauen dominiert, die ebenfalls miteinander konkurrieren. Becker hat die Geschäftsführung mit der Bedingung verknüpft, dass Thomas seine Alkoholsucht in den Griff bekommt. Bei den Anonymen Alkoholikern lernt er Karoline (Petra Schmidt-Schaller) kennen, die ihm auf Anhieb imponiert, weil sie wie eine Löwin für ihr Kind kämpft und in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seiner kühlen Gattin Marianne (Katharina Lorenz) ist. Karoline hat ihrem gewalttätigen Mann, der das alleinige Sorgerecht besitzt, den gemeinsamen Sohn Jimmy entzogen. Nun führt sie ein Leben unter dem Radar und in ständiger Sorge. Marianne bleibt natürlich nicht verborgen, dass der Gatte ihr abhanden zu kommen droht; Eric ist ohnehin überzeugt, dass seine Schwägerin ihren Mann auf dem Gewissen hat.
Foto: ZDF / Wolfgang Ennenbach
Eine dritte Handlungsebene von „Mord in der Familie – Der Zauberwürfel“ gilt der Polizeiarbeit. Die Besetzung scheint zu signalisieren, dass dieser Teil der Geschichte weniger wichtig ist, aber das täuscht. Sabine Winterfeldt ist zwar trotz all’ ihrer Erfahrung in der Tat kaum bekannt, aber das könnte sich nach diesem Film ändern, zumal der leitenden Ermittlerin Falck und ihrem Mitarbeiter Krämer (Wolf Danny Homann) die wichtigste Aufgabe des Films zukommt: Sie müssen die vielen Bruchstücke zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenfügen. Gerade Winterfeldt beeindruckt durch eine beiläufige Präsenz; ihre sanfte Stimme bildet einen reizvollen Kontrast zum resoluten Auftreten der Hauptkommissarin.
Und dann ist da noch Jörg Kröschel. Eric hantiert zwar gern mit einem jener einst vom ungarischen Architekten Ernő Rubik erfundenen Zauberwürfel, dem wiederum der Entwurf des eingestürzten Gebäude nachempfunden ist, aber der Titelzusatz gilt vor allem dem erzählerischen Konstrukt, denn das Drehbuch funktioniert ganz ähnlich wie das Drehpuzzle: Die Faszination des Films ist auch das Ergebnis eines ständigen Wechsels von Erzählperspektiven und Zeitebenen. So etwas kann auch zu einem heillosen Durcheinander führen, aber Kröschel hat beim Schnitt offenkundig nie den Überblick verloren. Er arbeitet seit vielen Jahren regelmäßig mit Michael Schneider zusammen, unter anderem auch sechsmal bei „Die Toten vom Bodensee“ (wie „Mord in der Familie“ eine Produktion von Rowboat). Unter dem Regisseur hat die ZDF-Krimireihe zwischenzeitlich allerdings deutlich an Qualität eingebüßt. Umso eindrucksvoller ist seine jüngste Arbeit, zumal die Leistungen des Ensembles ausnahmslos vorzüglich sind. Den kleinen Jacob Speidel hat er derart gut geführt, dass Jimmy sogar ein Mord zuzutrauen ist. Sehr markant sind auch die Auftritte von Robert Finster („Freud“), mit dem der Regisseur bereits bei einem der letzten Bodenseekrimis („Der Wegspuk“) zusammengearbeitet hat: Karolines Ex-Mann ist ein Unhold, aber finster lässt ihn zwischenzeitlich sogar richtig nett wirken. (Text-Stand: 30.11.2021)