Ausnahmezustand in einer Frankfurter Haupt- und Realschule. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion sind die Fassaden des modernen Zweckbaus mit provokativen Graffitis besprüht worden. „Jetzt ist Schluss mit der Sozialromantik“, wettert eine erfahrene Kollegin. Die jüngeren Lehrer wie die Referendarin Mechthild Bremer können sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. Der Rektor als Knast-Verwalter inmitten einer perfekt gesprayten Hinter-Gittern-Ikonografie. Echt gut getroffen. Der Kunstlehrer erahnt die Handschrift. Die Polizei – Abteilung Ermittlungsgruppe Graffiti – vermutet, dass hinter dem Ganzen ein Erwachsener steckt. Derweil geht das Leben an der Schule weiter. Kollegin Bremer bekommt vom Rektor einen Nachmittagskurs Ethik aufs Auge gedrückt – für fünf Härtefälle der Schule. Für sie die einzige Alternative zum Schulverweis. Hätte der Schulvorsteher nur geahnt, was aus diesem Kurs angewandter Philosophie entstehen würde – er hätte die Finger davon gelassen.
„Was ist für dich die perfekte Schule?“, will die idealistische junge Lehrerin von den Schülern wissen. Gibt es Vorbilder, von denen Teenager gerne lernen würden? Hatten wirklich alle coolen Typen wie Steve Jobs oder Bill Gates Probleme mit der Schule? Der Kurs beflügelt nach anfänglicher Null-Bock-Haltung die fünf Problemschüler, die rund um das Thema „die ideale Schule“ eine Website ins Leben rufen. Auch der Fernsehfilm „Mittlere Reife“ nutzt die Möglichkeiten von Web 2.0 – so gibt es eine Internet-Homepage (www.schueler-machen-schule.de) zum Film, auf der Schüler und Erwachsene ihre Vision einer besseren Schule diskutieren können. Der für die Seite verantwortliche HR hat zahlreiche Stimmen und Videobotschaften zum Thema gesammelt. Das ist weit mehr als eine clevere PR-Maßnahme. Das ist der richtige, der neue Weg für Filme, die soziale Wirklichkeit diskutieren.
Auch Autorin Ariela Bogenberger hat die wichtigsten Aspekte des Themas gesammelt, all das, was relevant ist im Zusammenhang mit Schule, Lernen und Bildungswesen. Besonders berücksichtigt sie das soziale Umfeld, aus dem die Schüler kommen: überforderte Eltern, krasses Unterschichtmilieu, ethnische Belastungen. Ausgerechnet der „schwerste Fall“ an der Schule ist der Sohn des Rektors, ein ADS-Patient, der Medikamente auf dem Schulhof vertickert und dessen überragende IT-Kenntnisse dem Vater den Rektorposten kosten werden. Bogenberger findet den richtigen Weg zwischen dramatischer Konstruktion und Realismus. „Mittlere Reife“ ist ein Diskurs-Film, in dem die Figuren mehr sind als soziale Prototypen.
Überzeugend sind vor allem die privaten Geschichten der Jugendlichen: obgleich Vieles nur angerissen wird, sind es kleine anschauliche Miniaturen sozialer Benachteiligung – die minderjährige „Familienmanagerin“, die die Mutter und immer häufiger den (alkoholkranken) Vater für ihre jüngere Schwester ersetzen muss. Das Mädchen, das sich hinter Proll-Posen versteckt und das seinem wegen Raub einsitzenden Vater nacheifert und sich vor dem Jugendgericht zu verantworten hat. Der junge Russe, der fließend Deutsch spricht und der Prostituierten aus seiner Heimat beim Ausfüllen behördlicher Formulare hilft. Der desillusionierte Graffiti-Künstler mit anarchistischer Ader, die der Waise offenbar von seinem Großvater mitbekommen hat. Die Kurzbeurteilungen der fünf Problemschüler, formuliert vom Rektor, lesen sich als sozialpädagogische Schubladen, einzig und allein dazu da, Fördermittel genehmigt zu bekommen. Bei über 35 Prozent sozial benachteiligter Schüler gibt es Zuschüsse. Den Rektor treibt allein diese Quote um. Die junge Kollegin (überzeugend: Bernadette Heerwagen) hat am Ende dafür nur ein süffisant mitleidiges Lächeln übrig.
„Mittlere Reife“ ist vornehmlich aus der Schüler-Perspektive erzählt. Bogenberger stellt die Nöte derer in den Mittelpunkt, für die Mitbestimmung ein Fremdwort aus den 70er Jahren ist, die sich von den „Opis“ in den Ministerien verarscht fühlen und die wissen, dass sie auch mit Abschluss kaum eine Chance haben werden im Berufsleben. Das wird den Machern zwar wenig der ARD-Zuschauer einbringen (selbst der herausragende Preisabräumer „Homevideo“ hatte nur drei Millionen), aber dieser Perspektivwechsel ist gesellschaftlich richtig und wichtig. Und auch dramaturgisch ist dieser Ensemblefilm mit seiner meinungsfreudigen Vielstimmigkeit, seiner Sprunghaftigkeit, was Charaktere und Handlungen angeht, und dem jugendaffinen Soundtrack wohltuend konsequent. (Text-Stand: 26.8.2012)