Uni-Dozent Ingwer Feddersen (Charly Hübner) nimmt eine Auszeit. „Ich muss mich um die beiden Alten kümmern“, eröffnet er seiner Dreiecks-Lebensgemeinschaft in Kiel erst am Vorabend seiner Abreise. Ragnhild (Julika Jenkins) und der immer etwas aufgeregte Claudius (Nicki von Tempelhoff) sind entsprechend irrtiert, und auch in Brinkebüll wird Ingwer nicht gerade begeistert empfangen. „Vadder“ Sönke (Peter Franke), der Ingwer in alter „Kröger“-Tradition eigentlich zu seinem Nachfolger als Gastwirt machen wollte, grummelt nur einsilbig „Kopfwehwetter“. Die stumme, demente Mutter Ella (Hildegard Schmahl) lebt ohnehin längst in einer eigenen Welt, büxt gerne mal aus und schlägt sogar um sich, wenn ihr der langjährige Ehemann zu nahe kommt. Die Altenpflegerin warnt Ingwer vor der „enormen Belastung“, der die Angehörigen oft nicht gewachsen seien. Aber Ingwer lässt sich nicht beirren, hilft der Mutter auch beim Gang auf die Toilette und dem nackten Vater beim Waschen in der Badewanne. Diese buchstäblich berührende, intime Annäherung zwischen Ingwer und den alt gewordenen Eltern gelingt ohne peinliche Momente in der Inszenierung – und konfrontiert nebenbei das Publikum mit einem Thema, das mehr oder weniger alle beschäftigen dürfte, egal ob sie in Brinkebüll oder Berlin leben.
Foto: ZDF / Christine Schröder
Zu recht ist das im September 2022 in den Kinos gestartete Drama von Lars Jessen (Regie) und Catharina Junk (Drehbuch) aber wegen seiner genauen Milieu-Zeichnung gelobt worden. „Mittagsstunde“ ist nach „Altes Land“ der zweite Roman der in einer Plattdeutsch sprechenden Familie aufgewachsenen Dörte Hansen, einer promovierten Linguistin, Journalistin und ehemaligen NDR-Redakteurin. Für alle Hardcore-Friesen hat Jessen alle Szenen noch ein zweites Mal komplett auf Plattdeutsch gedreht – diese Version bietet das ZDF ebenfalls 30 Tage lang in der Mediathek an. Im linearen Fernsehen aber wird die sprachlich „entschärfte“, fürs Gesamtpublikum durchaus verständliche Fassung ausgestrahlt. Zumal hier nur das Nötigste geredet wird und der Wandel des Dorflebens auf vielfältige Weise, in prägnanten Bildern (Kamera: Kristian Leschner) und vielen Ausstattungs-Details (Szenenbild: Dorle Bahlburg), sinnlich und intensiv erlebbar wird. Gleichzeitig wird das enge Zusammenleben auf dem Land nicht zur puren Idylle verklärt. Wunderbar, wie sich das halbe Dorf zum Eishockeyspielen auf dem zugefrorenen Dorfteich versammelt – doch in Feddersens Gasthof wird aus der fröhlichen Ausgelassenheit schnell ein gemeines Mobbing auf Kosten des Gastgebers. Nur in dieser Szene aus dem Jahr 1965 klingt noch das Nazi-Erbe an. „Russland ist lange her“, sagt Sönke Feddersen (Rainer Bock). „Und wie lange das dauert, bis du das abbezahlt hast.“ Tief verborgen unter damals noch stabilen Traditionen und einer Nachkriegsaufbruchstimmung liegen Scham und Schuldgefühle. Ella (Gabriela Maria Schmeide) wiederum fand während Sönkes Abwesenheit eine neue Liebe. Fast 50 Jahre später hofft Sönke nur noch eines: Dass er es mit Ella noch bis zur Gnadenhochzeit schafft.
„Natürlich erklingen, wie im Roman, zahlreiche Schlager der 60er-Jahre, in denen das 17. Lebensjahr ein wiederkehrendes Thema ist. Sie sind Ausdruck der Verlorenheit der Figuren in ,Mittagsstunde‘, die sich nur zaghaft trauen, ihre Träume und Sehnsüchte zu formulieren. Kaum sind sie sich halbwegs bewusst, was sie vom Leben wollen, neigt es sich schon wieder dem Ende zu. Wenn wir mit dem Film etwas richtig gemacht haben sollten, dann spüren die Zuschauer*innen diesen Verlust und Schmerz. Sie gewinnen aber zugleich die Zuversicht, dass vieles, was unwiederbringlich verloren zu sein scheint, auch wieder neu erfunden werden kann. Im günstigen Fall liefert ,Mittagsstunde‘ einen kleinen Beitrag zur Beantwortung der großen gesellschaftlichen Frage, die uns die zahllosen Krisen unserer Zeit abverlangt: Wie wollen wir leben?“ (Lars Jessen, Regisseur und Produzent)
Foto: ZDF / Christine Schröder
Mit Charly Hübner stellt die Verfilmung einen gegenüber dem Roman-Ingwer etwas anderen Phänotypen in den Mittelpunkt, aber diese in sich ruhende, angenehm zurückhaltend gespielte und doch sehr präsente Hauptfigur ist der perfekte Anker in einer verschachtelten, auf drei Zeitebenen spielenden Handlung. Ingwer kommt bei seiner Rückkehr zu den eigenen Wurzeln einigen Familiengeheimnissen auf den Grund, und wie sich da in Hübners Gesicht die neu gewonnenen Erkenntnisse spiegeln, bedarf meist keiner weiteren Worte, außer vielleicht eines leicht verwunderten „Ach, guck“. Wunderbar schlicht auch der abschließende Satz, der voller warmherziger Lakonie ist: „Och, Mudder, das ist aber auch ein Kuddelmuddel mit uns.“ Wie dieses „Kuddelmuddel“ entstanden ist, wird in zahlreichen, meist harmonisch eingebetteten Rückblenden erzählt. Beginnend im Sommer 1965, in dem drei Landvermesser nach Brinkebüll kommen und einer von ihnen Gefallen an der geistig etwas „verdrehten“ Marrett Feddersen (Gro Swantje Kohlhof) findet. Die verträumte Marrett liebt die Natur und die Schlager, tanzt und singt auf der Bühne im Gasthof der Eltern, der neben dem Tante-Emma-Laden der Mittelpunkt des Dorflebens ist. Auch 1976, auf der zweiten Zeitebene des Films, klappern noch Marretts Holzpantinen laut über das Kopfsteinpflaster. Aber die junge Frau wird bald verschwinden und zuvor sieht sie noch als Einzige voraus, was geschehen wird: „Die Welt geht unter“, verkündet sie bei jeder Gelegenheit. Und so kommt es ja auch, allerdings nicht im Sinne der Zeugen Jehovas, die bei ihrem Besuch in Feddersens Gasthof ein „Wachturm“-Exemplar hinterließen.
36 Jahre später brettern Lkws durch den Ort. Von einer Dorfgemeinschaft ist nicht mehr viel zu sehen. Übriggeblieben sind nur die Alten – und Ingwers Schulfreund Heiko (Jan Georg Schütte) mit seiner hier so herrlich absurd wirkenden Vorliebe für Cowboy-Folklore und Country- und Western-Tanz. Heiko scheppert mit einem Pick-up durchs Dorf, und man begegnet sich auf dem Parkplatz des Supermarkts. Immerhin nutzt seine Tanzgruppe noch ab und zu den großen Saal des Gasthofs. Die musikalische Vielfalt komplettiert die deutsche Songwriterin Maike Rosa Vogel, deren Stimme Ingwers Reise begleitet. Auch wer bereits zu den mehr als 300.000 zahlenden Kinozuschauerinnen und -zuschauern gehörte, kann sich von diesem bewegenden Familiendrama noch ein zweites Mal hinreißen lassen.