Diese Frau ist den Toten näher als den Menschen. Inga Ehrenberg (Anne Ratte-Polle) arbeitet als forensische Biologin im Wolfsburger Institut für Rechtsmedizin. Mit einem knochentrockenen Humor hält sie ihr Leben aus – und ihre Mitmenschen auf Distanz. Von denen wurde sie offenbar enttäuscht, jetzt gibt sie es allen zurück. Besonders heftig trifft es ihren Vater (Jörg Gudzuhn). Der baute einst Autobahnkreuze in der ganzen Republik, jetzt dreht er zuhause Däumchen und hegt stillen Zorn gegen seine Tochter, die seine Einsamkeit nicht wahrnimmt, gerade jetzt, wo doch die einzige Vertraute, seine Nachbarin Miriam an Krebs gestorben ist. Diese Frau muss ihm sehr viel nähergestanden haben, als Inga mitbekommen hat. Jedenfalls hat sie, die Frau, die sich nicht für Menschen interessiert, jetzt eine Halbschwester: Charlotte (Olga von Luckwald), in den Zwanzigern, könnte nach dem Tod ihrer Mutter neuer Familienanschluss guttun, Inga dagegen lächelt diese News kopfschüttelnd weg – und lässt die Frau, die sich mit Stullen-Schmieren ihren Lebensunterhalt verdient, erst einmal nicht in ihr Leben. Da darf nur einer rein: Giacomo, ein Falke, den die ausgebildete Falknerin in Pflege genommen hat. Ein komischer Vogel wie sie. In ihrem Wohnzimmer kommt es zu ersten Annäherungsversuchen. Endlich ist etwas Leben in der Bude, wo sie sich sonst mit Karaoke-Singen allein die Zeit vertrieben hat.
Foto: NDR / Frédéric Batier
„Mein Falke“ erzählt von einer Frau, die in ihrem Beruf aufgeht, obwohl er für die meisten Menschen der blanke Horror sein dürfte. Wenn sie den Kollegen erklärt, wie die Goldfliege einen toten Körper besiedelt, oder wenn sie Skelettteile aus einem Massengrab wie ein Puzzle zusammenfügt und daraus ihre Schlüsse zieht, welche Knochenüberreste für die „Umbettung“ die richtigen sind, dann spürt man die Leidenschaft und die Lust daran, den anderen und sich selbst die eigene Professionalität zu demonstrieren. Das hilft ihr hinweg über die eigene Leere, die sie ebenso selbstgewiss verdrängt wie einst ihre kaputte Ehe, bevor ihr Mann vor zwei Jahren die Reißleine zog, und über die Verletzung, die ihr davon geblieben ist. Erst durch die Erfahrungen mit dem Falken wird diese Frau, die alles Problematische in ihrem Inneren verkapselt hat, wieder offener und sensibler sich und ihren Mitmenschen gegenüber. Auch die Geschichte ihrer Trennung („Ich werde dich verlassen“) steht ihr plötzlich wieder vor Augen. Sie erzählt dem Vogel die traurigen Ereignisse, wie man dem neuen Lebenspartner von der letzten gescheiterten Liebe erzählt. Der Falke weckt ihre tiefsten Gefühle. In der intimsten Szene bricht der Schmerz aus ihr hervor, sie weint, das Wort „Liebe“ fällt, der Vogel scheint zu verstehen und fliegt zum ersten Mal zu ihr auf den Arm. Ein Moment größten Glücks.
Foto: NDR / Frédéric Batier
Allerdings kann es nur ein Glück auf Zeit sein. „Ein Falke, der keinen Hunger hat, wählt die Freiheit“, bringt es ihr Falkner-Ausbilder auf den Punkt. Das weiß auch sie – und doch ist in diesem Fall der Verstand der unterkühlten Forensikerin außer Kraft gesetzt. Hatte sie diese Gefühle nicht schon einmal, bei ihrem Mann? Und schwingt heute nicht vielleicht doch der Gedanke mit, dass sie diesem Wesen nicht nur vertrauen kann, sondern dass es sie auch nie verlassen wird. So oder so, der Vogel ist nur seiner Natur gefolgt, er hat sie nicht enttäuscht, nicht verletzt, stattdessen hat er ihren Seelenpanzer gelockert. Das also, was Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle im Interview über die Erfahrungen mit dem Falken sagt, das gilt auch für ihre Figur: „Ich habe durch die Begegnung mit ihm gelernt, die Wahrnehmung meiner eigenen Gefühle viel mehr zu schärfen.“ Bei Anne mag der Effekt intuitiv erfolgt sein. Und ob es so meditativ wurde wie bei der Schauspielerin, darf bezweifelt werden. Im Film hat man eher den Eindruck, dass die Arbeit mit dem Vogel Anne in einen Flow versetzt, der sich deutlich von ihrem Engagement bei der Arbeit unterscheidet.
Foto: NDR / Frédéric Batier
Erfahrungen besonderer Art können auch die Zuschauer bei diesem außergewöhnlichen Film machen. „Mein Falke“ erteilt seinem Publikum eine Lehre in Sachen Narration, ohne dass sich seine Macher, Autorin Beate Langmaack und Regisseur Dominik Graf, als Lehrmeister aufspielen. Es gab Zeiten, da wurden Geschichten – auch im Fernsehen – weder streng formatiert, noch in ein enges dramaturgisches Korsett gepresst, sondern einfach nur bestmöglich erzählt. Wer sich an diese Art Filme noch gern erinnert, für den kann „Mein Falke“ zum schönsten Aha-Erlebnis werden, vor allem auch, weil dieses 105minütige(!) Drama über Freundschaft, Freiheitswille und Familienbande Metaphern wie „von der Leine lassen“ oder „loslassen“ nicht die immergleichen Selbstfindungsplattitüden folgen lässt. Diese Heldin sucht nicht nach einem (neuen) Sinn im Leben, er wird ihr angetragen. Auch ist sie keine jener Figuren, die sich nur den Anstrich von „Eigenwilligkeit“ geben, nein, sie bleibt eine eigenwillige Frau, die künftig nur weniger mit ihren freiwillig aufgesetzten Scheuklappen durchs Leben gehen wird. Genau so spielt das Anne Ratte-Polle: streng, herb und schon mal mit einem Lächeln, denn ihre Inga hat Humor. Und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Jörg Gudzuhn verkörpert den Vater, einst ähnlich berufsfixiert, als ewigen Grantler. Der vermeintliche Familienzuwachs passt da so gar nicht ins Bild: Olga von Luckwald gibt Charlotte als Sonnenschein, trotz Trauer frisch und lebensfroh.
Foto: NDR / Frédéric Batier
Auf den ersten Blick sieht „Mein Falke“ nicht unbedingt wie ein Film von Dominik Graf aus. Zwar hat er mit Beate Langmaack und Produzent Jens C. Susa (Provobis) bereits das ähnlich gelagerte Frauen-Porträt „Hanne“ (2019) gemacht, doch „Mein Falke“ wirkt noch einen Tick undramatischer als dieses mehrfach ausgezeichnete Stationendrama. Die Heldin steht – von außen betrachtet – weitaus weniger unter Druck als die mit einer möglichen Krebsdiagnose konfrontierte, von Iris Berben gespielte Hanne. Noch deutlicher ist der Plot dem Alltag abgelauscht. Und es wird nicht der leiseste Versuch unternommen, das Sujet Forensik mit Spurenelementen von Spannung zu versehen. Was für eine Wohltat: echten Menschen beim Leben zuzuschauen oder die Begegnung mit dem Tier zu bestaunen! Ein für Graf ungewöhnlich unangestrengter Film ohne filmsprachliche Eskapaden, der seinen Charakteren vertraut und den Situationen und Augen-Blicken, wie man sie von Rudolf Thome oder Eric Rohmer kennt. Ein Film, der leicht und beiläufig ist und doch tief reinschaut in die Seele.