Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis

Vladimir Burlakov, Veronica Ferres: Knast, Politik, gesellschaftliche Verantwortung

Foto: Sat 1 / Willi Weber
Foto Rainer Tittelbach

Ein 17Jähriger im türkischen Knast. Ein Politikum, ein persönliches Drama, ein Stoff für ein TV-Movie – wenn es denn so außergewöhnlich gut gemacht ist wie dieses Doku-Drama. „Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis“ liefert mehr als eine Chronologie der „unerhörten“ Ereignisse. Keine Ferres-One-Woman-Show, kaum Knast-Klischees. Dafür ein konzentrierter, im besten Sinne ausgewogener Film über den Fall Marco W., über die Medienmacht, das deutsch-türkische Verhältnis… Außerdem erzählt dieser 110-Minüter die Geschichte einer Reifung. Sat 1 zeigt, dass sich der Mut zu mehr „Reality“ lohnen kann.

Die „Vorlage“ ist ein realer Fall: Marco Weiss wurde im April 2007 von der türkischen Staatsanwaltschaft beschuldigt, eine 13jährige Engländerin während eines Urlaubs in Antalya sexuell missbraucht zu haben. Die Mutter des Mädchens zeigte den Deutschen an. Der saß 247 Tage im türkischen Gefängnis. Das Verfahren zog sich so lange hin, weil die Gerichtsverhandlung vom Gericht immer wieder vertagt wurde. Im Dezember 2007 wurde der 17jährige aus der Untersuchungshaft entlassen. Im September 2009 verurteilte das türkische Gericht Marco Weiss zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, zwei Monaten und 20 Tagen auf Bewährung. In Deutschland wurde das Ermittlungsverfahren gegen Weiss bereits im Mai 2009 eingestellt. Ein Jahr zuvor hatte der in Uelzen geborene Schüler das Buch „Marco W. – Meine 247 Tage im türkischen Knast“ veröffentlicht, in dem er neben seiner persönlichen Geschichte auch über die Zustände in dem türkischen Gefängnis schreibt.

Marco W. – 247 Tage im türkischen GefängnisFoto: Sat 1 / Willi Weber
Ursprung allen Übels: der letzte Abend eines Türkei-Urlaubs. Vladimir Burlakov und Sophie Debattista

Vieles, was der Film – nach dem Buch von Marco Weiss – erzählt, ist der Öffentlichkeit bekannt. Was kann ein Fernsehfilm mehr liefern, als die realen Ereignisse zu doppeln? Er kann noch einmal diesen Wahnsinn zeigen, der aus der Realität erwachsen kann. „Jeder, der Kinder im Teenageralter hat, kann nachvollziehen, wie leicht scheinbar harmlose Situationen wie diese außer Kontrolle geraten können“, betont Produzent Michael Souvignier, „ein ganz normaler Ferientag endet damit, dass ein 17jähriger Schüler für 247 Tage zu Drogenabhängigen und Mördern ins Gefängnis gesperrt wird – ein unvorstellbares Drama!“ Der Zuschauer kann noch einmal die Schicksalsgeschichte von Marco Weiss miterleben – dabei bleibt es ihm vorbehalten, ob er sich an den realen Vorgängen aus der Sicht des Beschuldigten abarbeitet oder sich nur über sie erregt oder ob er die Geschichte als ein großes Drama begreifen will, als Gefühlskino, das für Katharsis-Effekte gut ist, bei dem aber auch den politischen Realitäten genügend Aufmerksamkeit und Sensibilität geschenkt wird.

Als Kritiker heißt es, den zweiten Aspekt zu betonen. Und da ist das TV-Movie von Oliver Dommenget (Regie) und Johannes Betz (Buch) vorbildlich. Es bietet mehr als eine bloße Chronologie der „unerhörten“ Ereignisse. Es hält ein Gleichgewicht zwischen den Geschichten von Vater, Mutter und Sohn. Veronica Ferres lädt einmal nicht zur One-Woman-Show. Ebenso die Waage halten sich das Leben im Gefängnis, das Antalya-typische Räderwerk der Justiz und der Alltag in Deutschland. Die „Hinter Gittern“-Klischees werden lange Zeit nicht bedient, nur gegen Ende werden sie geschickt zur finalen Zuspitzung eingesetzt. Das Leben in der Zelle mit an die 20 Mann (in Wirklichkeit waren es 36), einer einzigen Toilette ohne Spülung und nur zwei Mal in der Woche zwei Stunden lang warmem Wasser, dieses Leben wird nur diffus gezeigt. So wie Marcos Wahrnehmung auch ist. Das, was diese fremde, hässliche Welt mit dem 17Jährigen macht, steht im Mittelpunkt. Ihn verschrecken die Drogen-Exzesse, er hat Angst, als die „Belegschaft“ herausfindet, weswegen er in U-Haft sitzt. Aber er lernt auch, sein bisheriges Leben anders zu schätzen, er spürt – so weit die Eltern auch weg sind – mehr Nähe zu ihnen als je zuvor. Das alles fängt der Film ausschnitthaft nach und nach ein. Zwar findet Marco in Abdullah einen Freund, aber die klassische Knast-Karte „Wir zwei gegen den Rest der Zelle“ wird nicht ausgespielt.

Marco W. – 247 Tage im türkischen GefängnisFoto: Sat 1 / Willi Weber
Erster Kontakt – durch eine verschmutzte Trennscheibe. Herbert Knaup, Veronica Ferres, Vladimir Burlakov

Vorbildlich ist auch, wie sich Souvignier, Betz & Co ihrer politischen Verantwortung bewusst sind und wie es gelingt, diese politische Korrektheit nicht als pc-Fahne durch den Film zu schwenken. Es gibt Szenen, die andeuten, dass das türkische Gericht nicht mit der türkischen Bevölkerung gleichzusetzen ist. Auch wird deutlich gemacht, dass das Gericht in Antalya eine Sonderstellung in der türkischen Justiz einnimmt und dass die Kritik aus Deutschland die Gangart im Prozess verschärft haben dürfte. Dennoch baut der Film keine Buhmänner auf, will keine Gräben aufreißen. Im Gegenteil. „Ich habe den Deutschen viel zu verdanken“, sagt ein türkischer Touristikunternehmer, der in Deutschland lebt, „aber ich liebe meine Heimat und ich möchte, dass die Deutschen die Türkei achten.“ Neben den deutsch-türkischen Beziehungen geraten vor allem die Medien in den Fokus. Wir sehen die Meute marschieren und bekommen gar nicht mal so überzogen gezeigt, wie die Medienmaschine funktioniert.

Doch neben seiner Ausgewogenheit im besten Sinne ist „Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis“ dann auch immer mal wieder Kintopp im besten Sinne. Wenn Ferres ihren Medienberater aus dem von Journalisten umzingelten Wagen herauskomplimentiert und ihn so als zur Meute dazugehörig charakterisiert – das sind Momente, die ein solcher Film auch braucht. Weiterhin bietet der 110-Minüter den größtmöglichen Realismus-Effekt durch die vielen unübersetzten türkischen Passagen, die gleichzeitig zur Spannungsintensivierung gut sind, er bietet eine kluge Einstreuung wichtiger Rand-Informationen und eine preiswürdige Vorstellung von Vladimir Burlakov („Im Angesicht des Verbrechens“), der aus den 247 Tagen auch die Geschichte einer Reifung macht. Dass Sat 1 den „Knast“ des Buchtitels gegen „Gefängnis“ im Filmtitel ersetzte, ist nicht nur eine bemerkenswerte Fußnote, sondern es entspricht auch 100%ig dem Geist dieses bemerkenswerten Films. (Text-Stand: 22.3.2011)

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Fernsehfilm

Sat 1

Mit Vladimir Burlakov, Veronica Ferres, Herbert Knaup, Luk Pfaff, David A. Hamade, Bülent Sharif, Ulas Kilic

Kamera: Georgij Pestov

Schnitt: Ingo Recker

Musik: Klaus Badelt

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures

Produktion: Michael Souvignier, Dominik Frankowski

Drehbuch: Johannes Betz – nach dem Buch „Marco W. – Meine 247 Tage im türkischen Knast“

Regie: Oliver Dommenget

Quote: 4,87 Mio. Zuschauer (15,8% MA)

EA: 22.03.2011 20:15 Uhr | Sat 1

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Kontoinhaber: Rainer Tittelbach