Besonders junge Filmemacher sind in Deutschland meist darauf angewiesen, bei ihren ersten Werken besonders sparsam vorzugehen. In seinem Spielfilmdebüt „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ erzählt HFF-Absolvent Aron Lehmann nicht nur von eben diesem Problem ambitionierter Nachwuchsregisseure, sondern auch von dessen Lösung. Es ist die Fantasie der Macher und ihres Publikums, die finanzielle Lücken zu füllen imstande ist und auch Aron Lehmanns Film zu einem ganz besonderen Vergnügen macht.
Lehmann (Robert Gwisdek) hat gerade mit den Dreharbeiten einer opulenten Verfilmung der von-Kleist-Novelle „Michael Kohlhaas“ begonnen, da platzt unverhofft die gesamte Finanzierung. Von einem Tag auf den anderen verfügt Lehmann weder über ausreichend Komparsen, noch über Kostüme oder die notwendigen Kulissen. Selbst die Pferde werden ihm weggenommen. Doch der junge Regisseur lässt sich nicht unterkriegen und überredet sein Team, die Dreharbeiten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln fortzusetzen. Kühe spielen Pferde und ein ganzes Dorf springt für die verlorenen Kleindarsteller ein. Auch diese jedoch bemängeln bald die fehlende „Professionalität“ und während sein Filmprojekt jeden Tag von Neuem zu scheitern droht, verschwimmen für Lehmann zunehmend Realität und Fiktion.
„Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ besticht zu allererst durch den Humor, den Regisseur Aron Lehmann aus dem Aufeinandertreffen des großangelegten Filmprojekts und eines dörflichen Settings generiert. Geradezu absurd wirkt es, wenn sich Jan Messutat als Kohlhaas auf einen Ochsen schwingt oder eine ohnehin viel zu kleine Armee im Wald auf unsichtbare Gegner eindrischt. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der der „echte“ Lehmann seinen Platzhalter im Film agieren lässt, die dennoch überzeugt und zugleich herausfordert. Während im Theater imaginierte Kulissen und Requisiten üblich sind, erwartet der Zuschauer vom Medium Film die perfekte Illusion. „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ beweist nicht nur den skeptischen Figuren der Handlung, sondern auch dem Publikum, wie viel die eigene Fantasie zur Überzeugungskraft eines Films beizutragen weiß. Damit formuliert Aron Lehmann auch ein Statement gegenüber der deutschen Filmförderung und -industrie: Das Fehlen finanzieller Mittel birgt auch große künstlerische Freiheit.
Der Zuschauer wird Zeuge, wie der fiktive Lehmann und sein Team Kleists „Kohlhaas“ auf eine unerwartete und doch ausdrucksstarke Weise inszenieren. Aron Lehman zeigt seinem Publikum dabei nicht nur die „fiktiven“ Filmaufnahmen (die letztlich freilich tatsächlich Aufnahmen sind, da sie einen Teil des Films „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ bilden), sondern erzählt mit Hilfe eines vermeintlichen Produktionsvideos auch die Geschichte hinter den Kulissen. Trotz der wackelnden Handkamera erinnern die Schnitte immer wieder daran, dass auch diese Ereignisse gestellt und nicht authentisch sind. Zuweilen führt diese Methode leider auch zu Verwirrung, denn nicht immer ist klar erkennbar, ob es sich um das Set-Video oder vielleicht doch um eine dritte Realitätsebene handelt, in der die Kamera nicht mehr Teil der Geschichte ist. Diese kleinen Ausreißer sind deshalb leicht zu verschmerzen, weil sie letztlich die ewige Sehnsucht des Publikums nach lückenloser Illusion widerspiegeln. Inmitten all der Verwirrung um Fiktion und Realität formt sich die immer drängendere und hoch interessante Frage nach der eigentlichen Definition dieser Unterscheidung. Kopiert die Kunst das Leben oder nicht vielleicht doch das Leben die Kunst?
Je mehr Realität und Fiktion in der Geschichte miteinander verschwimmen, desto deutlicher treten der fiktive Lehmann und Kleists Kohlhaas als Parallelfiguren zu Tage. Der Regisseur nimmt wie das literarische Vorbild sein Schicksal in die eigenen Hände und stellt sich der Macht der Mainstream-Filmkultur entgegen. Wenn Aron Lehmann seinen Film hier mit einer weiteren Ebene ausstattet, verleiht er seinem Werk einerseits zusätzliche Tiefe, verliert jedoch gleichzeitig auch die Leichtigkeit und den Humor, die zu Beginn den Charme des Films ausmachten… Fazit: Trotz kleiner Schwächen präsentiert Aron Lehmann hier ein originelles und vor allem intelligentes Spielfilmdebüt. „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ beweist, dass auch „kleine“ Filme, große Unterhaltung bieten können und dass der Regie-Nachwuchs imstande ist, dem deutschen Film ein neues Antlitz zu verleihen.