Kein Herz für Inder

Szyszkowitz, Brambach, Urzendowsky, Ramesh, Andereggen. Köstlich dysfunktional

Foto: Degeto / Stephan Rabold
Foto Rainer Tittelbach

Eine hippe Londoner Austauschschülerin soll dabei helfen, aus der verkopften Einzelgänger-Tochter einen normalen Teenager zu machen. Doch Girlie „Sandy“ entpuppt sich als ein Westentaschen-Gandhi, der mit altklugen hinduistischen Weisheiten bei den Eltern einen „Abschiebungs“-Reflex erzeugt. Autor Sathyan Ramesh übertreibt es nicht mit dem Motiv der Ausländerfeindlichkeit; vielmehr zieht sich eine sympathische Moral latent durch die geistreiche, gut getimte & ganz stark besetzte Dramödie, die zu den Highlights der ARD-Freitagsfilme in diesem Herbst gehört. „Kein Herz für Inder“ hat ein Herz für Sonderlinge und ist ein mildes Plädoyer für soziale Außenseiter. Den realistisch ironischen Umgang in der Familie veredeln treffsichere, nie überpointierte Dialoge. Und die Beatles singen dazu.

„Plötzlich ist man auf der Welt und hat gar nicht darum gebeten.“ Fiona (Lena Urzendowsky) hadert mit ihrem Da-Sein, der Sinn des Lebens erschließt sich der 16-Jährigen einfach nicht. Ihre Eltern, Charlotte (Aglaia Szyszkowitz) und Erik Neufund (Martin Brambach), haben genug mit sich selbst zu tun, geben schließlich dennoch dem Drängen der Klassenlehrerin (Anna Stieblich) nach – und willigen in einen Schüleraustausch ein. Ein hippes Londoner Girlie könnte dem verkopften Teenager gut tun, und „Sandy McCartney“, das klingt wie Musik in den Ohren von Beatles-Fan Erik. Doch die Familie, zu der auch noch Fionas ältere Schwester Annika (Mercedes Müller) gehört, staunt nicht schlecht, als am Flughafen ein 13-jähriger Hindu-Knirps, Sandy Sacchidananda (Zayn Baig), den Vieren überfreundlich in die langen Gesichter strahlt. Für die Erwachsenen gibt es bald nur noch eine Frage: Wie werden sie diesen, für deutsche Verhältnisse viel zu positiv denkenden Westentaschen-Gandhi so schnell wie möglich wieder los. Altkluge hinduistische Lebensweisheiten passen momentan so gar nicht in den Alltag von Mama und Papa Neufund: Denn Erik hat Riesenärger mit dem Finanzamt und Charlotte hat sich in einen smarten Anwalt (André Szymanski) verliebt.

Kein Herz für InderFoto: Degeto / Stephan Rabold
Dieser Sandy (Zayn Baig) ist zwar alles andere als hipp, dennoch werden er und Fiona (Lena Urzendowsky) ziemlich beste Freunde.

„Wollen wir als Rassisten dastehen, die einen dunkelhäutigen jungen Mann nicht beherbergen wollen in diesen Zeiten?“, gibt allerdings „Mama Neufund“ zu bedenken. Das ist neben Sätzen der älteren Tochter, die das Verhalten der Eltern klar als „Abschiebung“ benennt, einer der wenigen expliziten Verweise auf das Thema Ausländerfeindlichkeit, die Sathyan Ramesh ins Drehbuch einfließen ließ. Der renommierte Drehbuchautor mit indischen Wurzeln entwickelt in „Kein Herz für Inder“ vordergründige gesellschaftspolitische & -pädagogische Ambitionen erfreulicherweise nur am Rande. Statt dessen zieht sich eine sympathische Moral latent durch die unterhaltsame Dramödie, die zu den Highlights der ARD-Freitagsfilme in diesem Herbst gehört. „Kein Herz für Inder“ hat ein Herz für Sonderlinge und ist ein mildes Plädoyer für soziale Außenseiter. Und wie in fast jedem modernen Familienfilm über die pragmatische Macht der Gewohnheit werden die reichlich locker gewordenen Stellschrauben der ehelichen Beziehung ein bisschen nachjustiert. Das kann wer will ernst nehmen, man kann es aber auch als ein komödienhaft ausgestelltes „the same procedure“ goutieren, so wie man auch die vom indischen Möchtegern-Philosophen verkündeten Weisheiten im Film vielfach als völligen Nonsens erkennen muss („Wer immer jung bleibt, wird nicht alt“). Ohnehin ist dieser schwer für den Schüleraustausch vermittelbare Londoner Inder ziemlich gewöhnungsbedürftig – für die deutsche Familie im Film, aber anfangs auch für den Zuschauer. Am Ende erklärt sich allerdings das seltsame Verhalten des jungen Hindu und seine fast noch seltsamere Kleiderauswahl. Insofern funktioniert jener „Sandy“ wie ein komödiantischer Katalysator, der dieser launig dysfunktionalen Familie ohne echtes Miteinander wieder mehr Leben einhaucht.

Kein Herz für InderFoto: Degeto / Stephan Rabold
Köstlicher Beziehungsstreit. Papa (Brambach) unter Druck. Charlotte (Szyszkowitz) weiß offenbar nicht nur alles besser, selbst das Reifenwechseln kann sie besser als der zunehmend verunsicherte Noch-Gatte. Annika (Mercedes Müller) kennt das schon. Das Stichwort heißt für sie in solchen Fällen: „Kopfhörer aufsetzen!“

Soundtrack: The Beatles („Here Comes The Sun“ / „We Can Work It Out“ / „Hello Goodbye“ / „Yesterday“ / „Le It Be“ / „You’ve Got To Hide Your Love Away“ / „Hey Jude“ / „Magical Mystery Tour“ / „Norwegian Wood“ / „Nowhere Man“ / „Strawberry Fields Forever“ / „Yellow Submarine“)

Familie kann so schön sein, vor allem aber kostet Familie – Geld und Nerven. So ist denn auch der Vater auf der ständigen Suche nach Dingen, die sich steuerlich absetzen lassen. Köstlich, wie Martin Brambach in seiner typischen Manier diesen verunsicherten, etwas unbedarften Ehemann zwischen drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs („Ihr habt sie wohl nicht alle“) gibt. Dieser Mann ist Arzt, doch statt Patienten sieht man in seiner Praxis nur überall Steuerunterlagen. Da ist die Mutter, die den Mann sucht, den sie geliebt und geheiratet hat. Aglaia Szyszkowitz findet kaum Möglichkeiten, ihr bezauberndes Lächeln aufzusetzen. Und da ist die jüngste Tochter, die nach Gründen sucht, weshalb sich das Leben doch lohnen könnte. Lena Urzendowsky („Das weiße Kaninchen“) spielt das mit trotzigem Ernst und jugendlicher Frische („Prost, mein Held“) – ihre Mimik, mal bestimmt, mal mehrdeutig in der Schwebe gelassen. Den realistisch ironischen Umgang in einer Familie, in der keiner auf den Mund gefallen ist, veredeln Rameshs treffsichere, nie zu überpointierte Dialoge. Vater: „Fiona, sag’ mal deine drei besten Freunde“. Fiona: „Ich lehne Hitlisten für menschliche Beziehungen ab.“ Mutter: „Lehnst du auch Freunde an sich ab?“. Fiona: „Ich lehne dieses Verhör ab.“ Wunderbar, wie sie eine typische Elternphrase ad absurdum führt: „Darf ich reinkommen?“, fragt die Mutter, bevor sie Fionas Zimmer betreten will. Diese kontert: „Wenn ich jetzt nein sagen würde, würdest du dann tatsächlich nicht reinkommen?“

Kein Herz für InderFoto: Degeto / Stephan Rabold
Der VW-Bus – ein Symbol für bessere Zeiten? Er fährt jedenfalls noch und kommt am Ende wieder in Schwung. Martin Brambach, Aglaia Szyszkowitz, Mercedes Müller, Lena Urzendowsky & Zayn Baig.

Die Dialoge sind die Basis für fünf Figuren, die komisch verdichtet und gleichzeitig durchaus vielschichtig sind. Jeder hat einen guten Grund so zu sein, wie er ist. Der Beatle-Fan, der zum Steuersparfreak mutiert ist, und die lebenslustige Beauty, die aus dem grauen Alltag auszubrechen versucht. Oder Fiona, deren kritisches Bewusstsein und ihr Hang, alles nüchtern und logisch zu betrachten, aus ihr einen seltsamen Teenager-Einzelgänger haben werden lassen. Und selbst der kleine Inder ist nicht grundlos zum Sonderling geworden. Ja, sogar der Klassenflegel erklärt Fiona, weshalb er sich ihr gegenüber immer wie ein Kotzbrocken benimmt. Bei so viel Anteilnahme fürs Personal und seine Sorgen und Nöte fällt das Happy End für diese Familie, die auseinanderzubrechen droht, nicht vom Himmel: Es ist noch mal gut gegangen! Besser jedenfalls als bei den Beatles, die den gefälligen Soundtrack liefern zu diesem sehr geradlinig und nah an den Figuren erzählten Film von Viviane Andereggen („Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut“), der auch visuell überaus ansprechend gestaltet ist und mit ebenso stimmigen wie beiläufigen Motiven & Metaphern arbeitet: der VW-Bus als Überbleibsel aus besseren, sehr viel lockereren Tagen oder das Haus der Familie, alles andere als eine architektonische Schönheit, eine Zweckbau, pragmatisch, so wie die Ehe der Neufunds: beide haben schon bessere Tage gesehen. (Text-Stand: 2.10.2017)

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Aglaia Szyszkowitz, Martin Brambach, Lena Urzendowsky, Mercedes Müller, Zayn Baig, Anna Stieblich, Gerhard Wittmann, André Szymanski, Tristan Göbel, Neil Malik Abdullah, Mala Ghedia

Kamera: Frank Küpper

Szenenbild: Jérome Latour

Musik: Christoph Zirngibl

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Sathyan Ramesh

Regie: Viviane Andereggen

Quote: 3,90 Mio. Zuschauer (13,2% MA)

EA: 27.10.2017 20:15 Uhr | ARD

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