Eigentlich ist der Sinn und Zweck einer Marke ja die Verbindlichkeit: Die Kunden sollen haargenau wissen, was sie erwartet. Ähnlich wie bei „Utta Danella“ aus dem Haus der ARD-Tochter Degeto kann man bei „Inga Lindström“ vom ZDF aber nie wissen, was einen erwartet: Mal sind es kaum erträgliche Schmonzetten, mal, wie in diesem Fall, kurzweilige und ausgesprochen vergnügliche romantische Komödien. „Inga Lindström“ alias Christiane Sadlo erzählt in „Liebe deinen Nächsten“ eine überraschend komplexe Geschichte mit gleich vier Hauptfiguren: Die Stockholmer Hotelmanagerin Julia (Mira Bartuschek) liebt ihren verheirateten Chef Erik und ist drauf und dran, mit ihm zusammenzuziehen, als sie rausfindet, dass seine seit Monaten angeblich kurz bevorstehende Scheidung ein leeres Versprechen war. Also kündigt sie kurzerhand und reist samt ihrer 15-jährigen Tochter Nina (Emilia Bernsdorf) aufs Land, wo sie vorübergehend bei ihrem Vater Marvin (Rufus Beck) unterkommen will; den Mietvertrag für ihre Wohnung hat sie nämlich auch gekündigt. Da gibt es nur ein Problem: Der auf Regeln und Paragrafen fixierte Familienrichter ist ein herzloser Nussknacker und furchtbarer Korinthenkacker, der ständig Krach mit seiner freigeistigen Nachbarin Esther (Franziska Schlattner) hat. In seinem Leben ist kein Platz für Familie; Julia ist das Ergebnis einer flüchtigen Beziehung, er weiß überhaupt erst seit ein paar Jahren von ihrer Existenz.
Natürlich berücksichtigt Regisseur Matthias Kieferauer („Was machen Frauen morgens um halb vier?“) die üblichen „Herzkino“-Parameter: Das mittsommerlich malerische Östersund sieht aus wie Bullerbü, der auf den Wellen glitzernde Sonnenschein erreicht auch noch den letzten Winkel, und die Musik trägt meistens eine Spur zu dick auf. Aber es macht großen Spaß, den Darstellern zuzuschauen, zumal Sadlo dafür gesorgt hat, dass sie viel zu tun haben: Selbstredend soll Marvins Kernigkeit bloß kaschieren, dass er Yogalehrerin Esther eigentlich ziemlich anziehend findet. Julia wiederum, kaum beim Vater eingetroffen, wird beinahe von einem Blinddarmdurchbruch dahingerafft, wodurch sich die Gelegenheit ergibt, einen Nebenbuhler einzuführen. Da Christof Arnold Julias Chef von Anfang an nicht gerade sympathisch verkörpert, ist ohnehin klar, dass das Drehbuch Erik opfern wird; Alexander Koll hat als Arzt, der sich rührend um seine Patientin kümmert, die viel besseren Karten, aber natürlich nimmt der verlogene Erik einen letzten Anlauf, um Julia zurückzugewinnen.
Soundtrack: The Beatles („Good Day Sunshine“), Marvin Gaye and Tammi Terrell („Ain’t no Mountain High Enough”), Jimi Hendrix (“Little Wing”)
Trotzdem wird diese Ebene der Geschichte mehr und mehr zweitrangig, weil die Romanze zwischen Marvin und Esther interessanter und auch vielschichtiger ist. Für den emotional ungelenken Richter besteht das Leben aus der perfekten Balance zwischen Kosmos & Chaos sowie aus einem steten Ausgleich zwischen Geben & Nehmen; es ist ihm ein Gräuel, jemandem etwas schuldig zu bleiben. Seine Enkelin klärt ihn auf, dass man nie quitt ist, wenn man sich mag – oder immer. Rufus Beck spielt die langsame Wandlung des Eigenbrötlers angenehm subtil, zumal er seine Figur nicht verraten muss: Auch als Liebender bleibt Marvin seinen Prinzipien treu. Und Beck, der in den letzten Jahren Dutzende von Hörbüchern gelesen hat, weiß, wie er seine Stimme einsetzen muss; wenn Marvin einen juristischen Tonfall anschlägt, als Esther Ärger mit ihrer Vermieterin hat, klingt er wie eine völlig neue Figur.
Und doch müssen diese erfahrenen Profis die Meriten mit einer jungen Frau teilen, die die Entdeckung des Films und ein großes Versprechen für die Zukunft ist: Emilia Bernsdorf, gerade mal 18, ist nicht nur bis hin zu den gleichen Grübchen eine ausgezeichnete Besetzung als Tochter von Mira Bartuschek, sie verkörpert ihre erste größere Rolle mit so viel Natürlichkeit, dass es eine Freude ist. Allerdings hat sie auch die besten Dialoge des Films, weil Nina im Gegensatz zum ignoranten Großvater und ihrer mitunter etwas unreif wirkenden Mutter gleichermaßen vernünftig wie auch ein durch und durch positiv denkender Mensch ist. Wie sie Marvin keck und kess immer wieder Stirn bietet, ist sehr schön ausgedacht und noch besser gespielt. Ohnehin erfreut „Liebe deinen Nächsten“ mit vielen schönen Einfällen. Um beispielsweise die penible Strukturiertheit von Marvins Tagesablauf zu verdeutlichen, bedienen sich Sadlo und Kiefersauer bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Die Turmuhr zeigt 7, als der Richter jeden Morgen zu den Klängen des alten Soul-Klassikers „Ain’t no Mountain High Enough” durch den Ort joggt und dabei die immergleichen Leute grüßt; prompt sind sie entsprechend verwirrt, als er eines Tages nicht auftaucht. (Text-Stand: 30.10.2015)