Mit über hundert Jahren ist Margot Friedländer geistig immer noch hellwach. Auch körperlich scheint sie bemerkenswert rüstig zu sein; beides ist ein Phänomen. Das größere Wunder hat sich jedoch vor achtzig Jahren zugetragen: Sie ist Jüdin und hat den Holocaust überlebt, mit Glück natürlich, aber vor allem dank der Unterstützung von Menschen, die das eigene Leben riskiert und sie versteckt haben; und wer wäre geeigneter als Raymond Ley, ihre Geschichte zu erzählen. Der vielfach ausgezeichnete Autor und Regisseur hat gemeinsam mit seiner Frau Hannah Ley 2014 den Grimme-Preis für das Doku-Drama „Eine mörderische Entscheidung“ (ARD) über die Bombardierung von Kunduz (2009) bekommen. Mit Werken wie „Die Nacht der großen Flut“, „Eichmanns Ende“, „Die Kinder von Blankenese“, „Die Aldi-Brüder“, „Lehman – Gier frisst Herz“ oder „Schuss in der Nacht – Die Ermordung Walter Lübckes“ gehört das Ehepaar, das die Drehbücher in der Regel gemeinsam schreibt, seit vielen Jahren zu den wichtigsten filmischen Chronisten der jüngeren und älteren deutschen Zeitgeschichte. Einer ihrer besten Filme ist „Meine Tochter Anne Frank“ (2015): weil sie der bekannten Geschichte neue Perspektiven abgewonnen und mit der damals praktisch unbekannten Mala Emde eine großartige Hauptdarstellerin gefunden haben.
Die Grundzüge der Handlung von „Ich bin! Margot Friedländer“ sind gänzlich andere, aber natürlich gibt es angesichts von Margots Erlebnissen einige Parallelen, selbst wenn sie ihre Verstecke mehrfach wechselt. Dass Ley für die zum Teil winzigen Rollen der Helferinnen und Helfer prominente Mitwirkende wie Iris Berben, Axel Prahl und Herbert Knaup gewinnen konnte, unterstreicht die Bedeutung des Themas. Ungleich entscheidender war die Besetzung der Titelrolle. Erneut hat sich Leys Gespür als goldrichtig erwiesen. Julia Anna Grob, bereits sehr positiv als junges Alter Ego der Heldin in der ZDF-Serie „Der Schatten“ aufgefallen, verkörpert sowohl die jugendliche Unbedarftheit wie auch das erzwungene Erwachsenwerden Margots sehr glaubhaft: Als ihr kleiner Bruder von den Nazi-Schergen verschleppt wird, stellt sich die Mutter (Hannah Ley) der Gestapo, um den Jungen zu begleiten. Die Tochter ist zwar bereits volljährig, aber noch etwas unbedarft. Nun ist sie auf sich allein gestellt, um dem Vermächtnis ihrer Mutter gerecht zu werden: „Versuche, dein Leben zu machen“; so lautet auch der Titel von Margot Friedländers 2008 erschienener Autobiografie.
In anderen Produktionen dieser Art sind die Spielszenen oft nur Ergänzung des dokumentarischen Materials, bei Ley ist es umgekehrt. Regelrecht verblüffend ist die Kombination der beiden Ebenen, denn er nutzt seine Hauptdarstellerin buchstäblich als Projektionsfläche: Die zeitgenössischen Bilder spiegeln sich in Grobs Antlitz. Der Effekt ist besonders wirkungsvoll, als Berlin brennt: Weil sich Margot nicht in einen Luftschutzkeller retten kann, sucht sie schreiend unter einem Bett Zuflucht; ihr Gesicht steht quasi in Flammen. Zwischendurch bedient sich Ley typischer Bühnenszenen, wenn Margot im Traum von einer verschlossenen Tür zur nächsten irrt. Auch das hat seine Bewandnis: Zu Beginn des Films, 1939, arbeitet sie als eifrige Statistin und Kostümgehilfin am Theater des Jüdischen Kulturbunds; die entsprechenden Aufführungen bescheren Charly Hübner einige heitere Auftritte als Alfred Berliner, dem Star des Ensembles. Der Verwaltungschef (Peter Lewys Preston) wird nach dem Krieg Margots Ehemann, gemeinsam emigrieren sie nach New York, hier spielen fünfzig Jahre später ebenfalls einige Szenen, als sie sich entschließt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.
Im Theater ist Margot auch zum ersten Mal Stella Goldschlag (Luise von Finckh) begegnet. Die junge Frau wird in der irrigen Hoffnung, ihre Mutter retten zu können, Spitzel für einen Gestapo-Mann. Die Momente, in denen der Nazi (Peter Sikorski) ihr Gewalt antut, um ihren Widerstand zu brechen, gehören zu den bedrückendsten des Films und sind nur schwer auszuhalten. Während Ley keinen Hehl daraus macht, wie verabscheuungswürdig dieser Faschist ist, weckt er für die sogenannten Greifer zumindest ein gewisses Verständnis; die jüdischen Kollaborateure halfen der Gestapo, untergetauchte Juden ausfindig zu machen. Nach 15 Monaten im Untergrund wird Margot im April 1944 doch noch verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Auch dafür findet der Film starke Bilder: Anstatt Szenen aus dem Lager nachzustellen, lässt Ley seine Hauptdarstellerin durch die heutigen Ruinen wandern.
Bei allem Respekt für die einfallsreichen und auch handwerklich sehr gelungenen Verknüpfungen der verschiedenen Zeitebenen, für die große Kinomusik (Hans P. Ströer) und die Bildgestaltung (Martin L. Ludwig, Dirk Heuer): Es ist vor allem die Mitwirkung von Margot Friedländer, die diesen Film zu einem herausragenden Werk macht. Sie ergänzt die Handlung mit ihren Aussagen, setzt aber auch rote Linien: Nicht alle, die sie versteckten, haben ausschließlich uneigennützig gehandelt. „Der Mann war das Problem“; mehr wird sie dazu nicht sagen. Ähnlich klar ist sie in ihrer Mission: „Ich will für alle sprechen, die man umgebracht hat.“ Nicht nur für die sechs Millionen Juden, sondern auch für die vielen anderen, die ermordet wurden, weil sie anders gedacht haben und „weil Menschen sie nicht als Menschen anerkannt haben.“ Das Doku-Drama endet mit der Begegnung von Gegenwart und Vergangenheit, als die alte Dame auf die junge Frau trifft, die sie im Film verkörpert.