Die magersüchtige Ronnie (Zoe Magdalena) ist gegen ihren Willen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden. Die Rahmenbedingungen des Klinikaufenthalts sind rasch geklärt: „Wenn du so weitermachst, stirbst du.“ Die Therapeutin Frau Jakobsen (Minna Wündrich) ist einerseits verständnisvoll, die Regeln des Hauses aber sind strikt zu befolgen: absolutes Süßstoffverbot und keine Beziehungen mit anderen Patienten. Die 17-Jährige tut so, als ginge sie das alles nichts an. Sie leugnet ihre Krankheit, sie streitet ab, dass sie Hilfe braucht. Und doch wirkt Ronnie verzweifelt: Ihr Problem ist, dass sie nicht weiß, was ihr Problem ist. Und Selbstwertgefühl – was ist das?! Nach der ersten Essbegleitung, für sie der reinste Horror, gibt es nur eins: Sie muss hier raus. Und sie weiß auch schon wie: Zwei Verwarnungen reichen. Ausgerechnet als ihr die zweite Verwarnung droht, weil sie für Melly (Felina Zenner) „Süßstoff“ bei sich versteckt hat, beginnt sie, die Gemeinschaft der selbsternannten Loser zu schätzen: die vernünftige Gina (Daria Vivien Wolf), People Pleaserin Esta (Saron Degineh), Milan (Amadin Piatello), der unter einer Zwangsstörung leidet, Social-Media-Styling-Queen Kimmi (Evelin Schwarz) und Nick (Alessandro Schuster), der mit den schönen Augen und der bipolaren Störung. Bei dem könnte Ronnie schwach werden. Das wäre dann allerdings die zweite Verwarnung!
Foto: ZDF / Laura Hansen
In sechs Folgen erzählt „Hungry“ von der Angst, der Ohnmacht, dem Schmerz, aber auch dem Hoffnungsschimmer einer Anorexie-Patientin im Teenageralter. Die Serie dauert insgesamt kaum länger als ein 90-Minüter – und so geht es denn auch Schlag auf Schlag. Da ist Ronnies trotzig-rotzige Antihaltung der ersten Tage, ihr Wunsch, rauszufliegen aus der „Anstalt“. Damit ihr das schnellstens gelingt, triggert sie die Störung eines Mitpatienten, bekommt ihren ersten Verweis, entgeht knapp dem zweiten – und lässt sich dann doch auf die Therapie ein. Ihr Zynismus verschwindet, sie öffnet sich, wird dadurch verletzlicher, ihre Ängste aber sind nicht verschwunden: „Was ist, wenn ich nicht aufhören kann zu essen?“, fragt Ronnie vor dem ersten „Auswärtsessen“ die Therapeutin, wenn die Pizza zu gut schmeckt. „Wenn ich immer mehr will und die Kontrolle verliere.“ Hinter den tagtäglichen Kämpfen, die ein gesunder Mensch schwer nachvollziehen kann, lauert immer wieder die feste Überzeugung, es nicht wert zu sein, dass es einem gut geht. Auch als Laie bekommt man einen guten Einblick in die verqueren Denkmuster der oft ganz schön schlauen Patient*innen. Besonders schlau ist die kleine Ronnie (Waris Leonhardt): Die ist süß, naseweis, frech, und ihr gehört die erste Szene jeder Folge. Das sind keine Rückblenden, eher surreale Kommentare, die das Klischee „Kindermund tut Wahrheit kund“ köstlich konterkariert, indem der Fratz gegen erwachsene Weisheiten anschimpft und die Zuschauer vorwarnt: „Das hier ist keine süße Geschichte. Hier geht es um Essstörungen, psychische Erfahrungen und Trauma und um Menschen, die zu dumm waren, in die richtige Familie mit dem richtigen Aussehen geboren zu werden.“
Soundtrack: Nima („Bad Guy“), Marten Hørger („Don’t Stop“), Taylor Swift („Blank Space“, „Fortnight“), Panda Bear & Sonic Boom („Go On“), Paramore („Forgiveness“), Current Joys („Kids“), Paula Hartmann („Schwarze SUVs“), Zaho de Sagazan („Modern Love“, LED Soundsystem („Oh Baby“), Sixpence None The Richer („Kiss Me“), Sabrina Carpenter („Please Please Please), The Cranberries („Dreams“), The Killers („Mr. Brightside“), Dino DZ („Damn Phones“), Childish Gambino („Lithonia“), Billie Eilish („What Was I Made For“), Phlotilla („Going Down Fighting“)
Foto: ZDF / Laura Hansen
Der moralische und methodische Ansatz der Serie ist ein aufklärerischer, aber kein simpel pädagogischer. „Hungry“ kann Betroffenen Mut machen und auch deren Angehörigen. Alle Autor*innen wissen, wovon sie schreiben, haben eigene Erfahrungen mit seelischen Erkrankungen; die Headautorin Zoe Magdalena, zugleich auch die Hauptdarstellerin, hatte die Idee zu der Serie, als sie selbst vor einigen Jahren wegen Essstörungen in einer Klinik war. Die Serie verzichtet darauf, die Schuldfrage zu stellen, die bei Anorexie, Bulimie und anderen psychischen Erkrankungen keine Lösung verspricht. In der Serie kommen keine Angehörigen vor. Auch der Sport- und der Kunsttherapeut bleiben Randfiguren, und selbst die gestrenge Frau Jakobsen verharrt in ihrer Rolle als kompetente Begleiterin. Ronnie, Gina & Co müssen selber ihren Weg aus der Krankheit finden. Das ist realistisch. Die Handlung orientiert sich am realen Verlauf einer solchen Therapie und nimmt sich wenig dramaturgische Freiheiten heraus. Für „Spannung“ und Entwicklung sorgt die Kommunikation zwischen den Jugendlichen; entscheidend dafür ist die Gruppendynamik. In der fünften Episode „Chaos“ zeigt sich, wie fragil die Freundschaft unter psychisch kranken Jugendlichen sein kann. „Scheiß auf gesund und glücklich.“ Wenn ein Kuss doch nur ein Kuss wäre. Ronnie fühlt sich verraten, fühlt sich plötzlich wieder schlecht. Ihr geht es wie dem Zuschauer: Denn auch sie, noch dazu fixiert auf sich selbst und ihre eigenen Probleme, sieht alle anderen ja nur aus der Außensicht. Da sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Aber den dunklen folgen auch wieder helle Tage.
„Hungry“ gehört zum Format „Instant Fiction“, welches das das ZDF in der Coronapandemie eingeführt hat. Schnell & preiswert soll auf gesellschaftliche Phänomene in erzählter Form zugegriffen werden. Bei Serien wie „Drinnen. Im Internet sind alle gleich“ (2020), „Schlaf-schafe“ (2021) oder „WatchMe – Sex sells“ (2023) spielt die filmische Umsetzung eine untergeordnete Rolle. Andere Instant-Serien, „Loving her“ (2021/ 2023), „Becoming Charlie“ (2022) oder „Bauchgefühl“ (2024), waren inszenatorisch überaus gelungen. Auch „Hungry“ kann sich – dafür, dass die Räume einer Klinik nicht gerade sexy sind – sehen lassen. Für Buntheit und Abwechslung sorgen die Charaktere selber, so auch die Hauptfigur mit ihrem ansehnlichen Afro-Look, einem Zeichen für deren Veränderung, aber auch die Kamera, insbesondere das Spiel mit den Einstellungsgrößen. Optisch richtig was los ist in der besagten fünften Folge, in der eine Halloween-Party für emotionale Verwirrung sorgt. Zumindest auf Seiten Ronnies legt sich das Chaos wieder. Der Weg zur Heilung mag lang und beschwerlich sein, doch was anderes sollte einem eine Serie, die sich (auch) an die Betroffenen wendet, mitgeben als ein „Ich schaff‘ das“. (Text-Stand: 29.10.2024)
Foto: ZDF / Laura Hansen