Bei den Kramers hängt der Haussegen schief. Annette (Annette Frier) erstickt in Arbeit, hat nicht einmal am Abend ihres Geburtstags Zeit, um mit Ingolf (Christoph Maria Herbst) und Adoptivsohn Ole (Nico Ramon Kleemann) etwas zu unternehmen. „Ich will, dass endlich unser Leben beginnt“, fordert Ingolf ungewohnt nachdrücklich, und auch das Jugendamt hat seine Zweifel, ob das Ehepaar Kramer für eine Adoption unter diesen Voraussetzungen noch geeignet ist. Langsam kommt sogar Annette ins Grübeln – und sie entschließt sich gar nicht mal so schweren Herzens, Bruder Stefan (Stephan Grossmann) zum Co-Geschäftsführer zu machen. Der nutzt allerdings bald seine Prokura, um den Familienbetrieb an den Rand des Ruins zu bringen. Dass man sich seine Familie nicht aussuchen kann – das wissen auch die beiden Schwestern, die Krimiautorin Mascha Hillinger (Meike Droste) und die Hotelmanagerin Karin Berger (Susanna Simon), die im Hotel Heidelberg zu Gast sind. Sie sind angereist zur Beerdigung ihres Vaters, dem legendären Heidelberger Keksfabrikanten Hillinger. Anfangs reden die beiden kaum ein Wort miteinander, aber unter dem Eindruck des sehr persönlichen Testaments und in Anbetracht dessen, dass der gemeinsame „Feind“ die zweite Frau ihres Vaters (Irene Rindje) und deren Sohn (Marcel Glauche) ist, scheint eine Versöhnung der Schwestern nicht ausgeschlossen zu sein. Und als dann Annette ob der angespannten Lage den Verkauf des Hotels als beste Option ins Auge fasst, wogegen selbst ihre Mutter Hermine (Hannelore Hoger), die das Hotel Heidelberg einst zur Legende machte, keine Einwände vorbringt, zeichnet sich eine Win-Win-Situation ab.
Es heißt Abschied nehmen von Annette Frier und Christoph Maria Herbst als Ehepaar Kramer in der Degeto-Reihe „Hotel Heidelberg“. Autor Martin Rauhaus macht aus der Not eine Tugend, indem er einen durchaus glaubwürdigen Konflikt entwickelt, der die beiden aus dem Familienunternehmen aussteigen lässt. Die Chefin entscheidet sich für die Familie und gegen die Karriere, was aber im Kontext dieses Problemhotels und der speziellen Familiensituation keineswegs als konservative Lösung zu verstehen ist. Außerdem dürfen ja fortan gleich zwei Frauen die Geschicke des Heidelberger Traditionshauses weiterführen. Das Zusammenspiel von A- und B-Plot ist klug ausgedacht und keinesfalls zu offensichtlich eingefädelt. Im Schlussdrittel kommt dann aber auch dem Zuschauer, der keine Vorinformationen mitbringt, eine Ahnung, wie es ausgehen könnte. Clever ist das Ganze vor allem emotionspolitisch: Je mehr man sich in die Geschichte eingelebt hat, umso mehr wird man die Gründe der Kramers nachvollziehen können. Und auch den Hillinger-Schwestern gönnt man ein Happy End – und so stellt sich auf der Zielgeraden irgendwann die Vorfreude auf ein Feelgood-Ende ein. Die starke Geschichte sorgt also dafür, dass der Abgang von den tragenden Charakteren und Schauspielern nicht unbedingt als Verlusterfahrung erlebt wird. Wer allerdings Distanz wahrt zur Geschichte und wer weiß, dass Annette Frier und Christoph Maria Herbst künftig lieber ihre Ehekrisen unter dem Titel „Merz gegen Merz“ im ZDF ausfechten werden, der wird vielleicht die Episode „… wer sich ewig bindet“ in eine andere Schublade stecken.
Zum Schluss dürfen Frier und Herbst noch einmal ihre Qualitäten ausspielen, während Hannelore Hoger wie zuletzt nur noch eine Gastrolle übernommen hat. Die Tonlage ist ähnlich wie in der vierten und bislang besten Episode, „Kinder, Kinder“, eine Dramedy-Tonlage, „die sich mit ernsthafte Leichtigkeit oder beschwingte Problembewältigung umschreiben lässt; das Ganze ohne Zeigefinger und ohne falschen Schmus“. Die Reihe bleibt sich treu. Und so ist auch im sechsten Film Annette Kramer das Maß aller Dinge, bis der Göttergatte ihr den Kopf zurechtrückt. Annette Frier hat ihre Figur vom Trauma der Übermutter befreit, ist zu einer vitalen, lebenstüchtigen Persönlichkeit gereift, um nun selbst in Hermines Fußstapfen zu treten und über alles und jeden zu bestimmen. „Du klingst immer mehr wie Mama“, bekommt sie von ihren Geschwistern zu hören. Alles wollen und mit dem Kopf durch die Wand – so hat es die Matriarchin auch immer gemacht. „Wo steht, dass Eltern ihren Kindern alles nachmachen müssen“, wirft die Ex-Chefin weise ein. Damit ist der Drops gelutscht, das Hotel Geschichte. Und dann geht es schnell. „Habt Ihr vielleicht mal ‘ne Minute“, fragt Mascha die Kramers, nach einem Schnitt vernimmt man im Off Jubelschreie, dann wird der Stand der Dinge knapp von der künftigen Ex-Geschäftsführerin und ihrem Bruder umrissen, bevor in der nächsten Szene Annette, Ingolf und Ole ein Fachwerkhaus besichtigen, und mit einem beiläufigen Witz sind auch diese drei Geschichte. Im Schlussbild stehen die zwei Neuen im Garten des Hotels. Auf was haben sie sich da nur eingelassen! Der bewährte Gute-Laune-Schlusssong der Reihe lässt aber kaum einen Zweifel daran, dass die beiden Frauen es hinkriegen werden.
„Hotel Heidelberg“ ohne Frier und Herbst – da war anfangs die Skepsis groß. Lässt man sich aber vorurteilsfrei und ohne vorschnelle Vergleiche auf Susanna Simon und Meike Droste beziehungsweise die taffe, aber durchaus emotional lernfähige Managerfrau und die flippig-alternative Optimistin ein, dann muss man sagen, besitzen die Neuen ein größeres Potenzial für künftige Geschichten als die „Alten“. Mit den Kramers hätte man sich die Konflikte zunehmend von außen, etwa über die Hotelgäste, reinholen müssen. Der bisherige Hauptkonflikt, viel Arbeit & wenig Familie, ist jedenfalls nicht mehrmals abendfüllend. Tod hatten wir schon, Trennung spielt jetzt in „… wer sich ewig bindet“ eine Rolle, und Gebrechlichkeit oder Demenz müssen nicht auch noch in „Hotel Heidelberg“ sein. Da sind zwei emotional belastete Keksfabrikantentöchter mit böser Stiefmutter und lieber Tochter (Annika Schrumpf), Anfang 20, alleinerziehend, keine schlechte Alternative. Schön auch, dass Stephan Grossmann weiterhin als Stefan Kramer dabei ist, und auch Bettina Stuckys Köchin, die einen launigen Ton mitbringt, bekommt zwar Konkurrenz von einem Künstler in Sachen vegane Gaumenfreuden, bleibt dem Hotel aber erhalten. Mit dem bisher etwas ungeschickten Stefan, jetzt Hahn im Korb, sind auch amouröse Verwicklungen, möglicherweise mit komödiantischer Ausrichtung, denkbar. Und je mehr die kontrollierte Geschäftsfrau mit Hang zum Perfektionismus von der Individualität ihrer leidenschaftlicheren Schwester gebremst wird, umso besser für das etwas andere Hotel und die etwas andere ARD-Freitagsreihe. Das Hotel zu seinem Zuhause machen, welches man auch selber liebt, möchte Mascha, und sich nicht immer nur fragen, was die Gäste wollen. Damit wird sie auch beim Zuschauer punkten.
Die Sehnsucht nach Heimat, nach Gemeinschaft, nach Familie, die sucht der Zuschauer offensichtlich bei Genres der leichten Gangart, insbesondere beim Personal von Reihen und Serien. In „Hotel Heidelberg“ wird dieses Bedürfnis vergleichsweise anspruchsvoll befriedigt. Gleiches gilt für die versteckte Lebenshilfe, die bei alltagsnaher Unterhaltung ja immer irgendwie mitschwingt. Kommt beispielsweise kaum ein „Herzkino“-Film ohne die üblichen Kalendersprüche aus, setzt Autor Martin Rauhaus auf Lebenserfahrung, Widersprüche und eine spielerische Note in der Interaktion. „Familien sind kompliziert, lohnt sich aber“, bringt es Annete Kramer auf den Punkt, als sie selbst noch mittendrin steckt im Familienstress. Und sie könnte sogar einen Nebenjob als Hotel-Mediatorin annehmen. Den beiden Schwestern rät sie beispielsweise im Vorbeigehen: „Wenn man sich mal die Mühe macht, die Perspektive des anderen einzunehmen, dann wird ziemlich schnell klar, dass man genauso gut die Position des anderen vertreten könnte.“ Dass die meisten Figuren mitten im Leben stehen, klug und nicht auf den Mund gefallen sind, ist ein weiteres Plus. Der Psychologe als intellektuelles Korrektiv fällt nun allerdings weg. Die Schriftstellerin dürfte aber genug Sensibilität mitbringen, um auch die Kommunikation zwischen den Zeilen zu lesen. Damit man auch weiterhin Sätze hören darf wie diesen: „Es geht nicht ums Gewinnen, es geht darum, das Spiel zu spielen.“
Bei einer an den Charakteren ausgerichteten Reihe wie „Hotel Heidelberg“ mag sich der Tonfall an der Oberfläche der Handlung etwas verändern – dank Stammautor Rauhaus und Edzard Onneken, der bereits die beiden vorangehenden Episoden inszeniert hat, bleibt die Tonlage allerdings bestehen. Gefühlt scheinen die Filme ein bisschen flotter geschnitten zu sein, etliche Szenentrenner im Zeitraffer unterstreichen diesen Eindruck, und die Anmutung ist insgesamt weniger trutschig als zu Beginn 2016 in der Auftaktepisode „Kramer gegen Kramer“, in dessen Geschehen Hogers Helmine noch die Zügel fester in der Hand hielt. „Der vermeintlich banale Alltag schreibt die Geschichten und bestimmt den Rhythmus der Erzählung. So bleiben die turbulenten Ereignisse, die nie übermäßig hochgespielt oder gar künstlich dramatisiert werden, stets ein Stück weit anschlussfähig für den Zuschauer“, hieß es auf tittelbach.tv in der Kritik zu „Kinder, Kinder“. Das gilt nun gleichermaßen für die beiden neuen Episoden. In den Situationen, in denen nicht der bleierne Schmerz der Vergangenheit auf den – trotz Liebe zum Keks – schmalen Schultern der Schwestern lastet, geben sie ein Versprechen auf die Zukunft der Reihe. Zunächst musste ja das Urvertrauen zwischen den beiden erst wiederhergestellt werden. Das Spiel aus Nähe und Distanz mit zweifacher Versöhnung stimmte da (psycho)logisch nicht in jeder Situation und wirkte eher wie eine jener Handlungsstereotypen, ohne die keine Dramödie und kein Drama der Leichtbauweise auskommt. In Zukunft sollten es wieder kleinere Konflikte sein zwischen den beiden Frauen, der idealistischen, für sich einnehmenden und ihrer pragmatischen, reservierteren Schwester. Das Herz dieser Reihe war bisher die Qualität der Interaktionen: Beziehungsalltag, Konflikt-Bewältigung & Streits mit Niveau, gewitzte Wortgeplänkel, die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und Selbstironie. Und über allem lag trotz existentieller Krisen eine wohlwollende Stimmung – so wie jetzt in der Schlussszene von „Wir sind die Neuen“. Man darf also gespannt sein…