Drei Kinder sind dem Rattenfänger (Götz Otto) nicht gefolgt: die Blinde, der Taube und der Lahme. Heute sind das die sehbehinderte Finja (Caroline Hartig), der taube Jannik (Constantin Keller) und Rollstuhlfahrer Ruben (Riccardo Campione). Gemeinsam wollen die Drei dem Fluch des Flötenmannes Paroli bieten. Komplettiert wird das Trio, das sich über gemeinsame Alpträume findet, durch Janniks älteren Bruder Sam (Jonathan Alias Weiske). Sam bildet die Brücke zu denen, die lange nicht glauben wollen, dass der Schrecken real ist: In Hameln ermorden Kinder ihre eigenen Eltern. Wen trifft es und warum? Auf der Suche nach Antworten erkennen die Jugendlichen sehr bald: Der Fluch des Rattenfängers erstarkt an der unausgesprochenen Schuld Hamelner Bürger.
Auch die Eltern von Finja, Jannick und Ruben tragen Schuld in sich. Der Riss, das Nicht-Verstehen zwischen Kindern und Eltern durchzieht als Konflikt die gesamte Erzählung. Neben dem Gap der Generationen tauchen weitere Reminiszenzen an das moderne Mystery-Genre auf. Die dem Fluch verfallenen Kinder sprechen in archaischer Sprache wie in „Beforeigners“. Die fast blinde Finja beherrscht den Umgang mit Pfeil und Bogen so perfekt wie Katniss Everdeen in „Die Tribute von Panem“. Trugbilder und Geisterauftritte erinnern allein schon durch ihre akustische Verstärkung an „Dark“. Angesichts mancher Dialogsätze (Drehbuch: Rainer Matsutani, Sandro Lang) wünscht man sich allerdings noch mehr Worte in geheimnisvollem Mittelhochdeutsch. Wenn Veronica Ferres in der Rolle von Jannicks und Sams Mutter schlafen geht, sagt sie „Ich bin ziemlich kaputt, ich zieh’ mich jetzt zurück“. Klar, so gewählt drücken sich müde Mütter meist aus.
Genrekino, und darauf basiert „Hameln“ genauso wie Matsutanis vorherige Serie „Spides“ (SyFy, EA: 5.3.2020) folgt eigenen Regeln. Die Realität darf vernachlässigt werden. Langweilen aber darf Grusel nie. „Hameln“ langweilt in vielen Dialogen und immer dann, wenn sich die immergleichen Protagonisten durch menschenleere Kulissen bewegen. Die Schockbilder von bedrohlichen Lumpenkindern aus dem Jenseits beginnen verlässlich mit Flackerlicht und werden kaum variiert. Etwas mehr Fahrt nimmt die Geisterbahn erst bei der Rekonstruktion einer Installation auf, die die Rattenfänger-Gemeinde zum 730. Jubiläum des Schreckens am 26. Juni 2014 erbaut hat. Damals nahm der Fluch, der die Stadt jetzt im Griff hat, seinen Anfang. Den Geisterjägern dient die Installation als eine Art Brummkreisel, der sie per Drehschwindel in die Vergangenheit katapultiert. „Wie I-Max in 3-D, nur ohne die beschissenen Brillen“, kommentiert Ruben den Zauber. Das trifft die visuelle Qualität von „Hameln“ nicht ganz.
Es mag sein, dass die Endbearbeitung der (nur in Arbeitsfassung) gesichteten Serie noch einiges herausholen kann. Mit zusätzlichen Schauplätzen aber ist nicht zu rechnen. Die Rückblenden auf die Geschehnisse im Mittelalter beschränken sich also auf den Marktplatz der Stadt und auf Höhle und neblige Wälder. Am häufigsten reist die sehbehinderte Finja durch die Zeit zurück. Während ihre Augen im Jetzt verhangen und milchig ins Leere schauen, weiten sie sich bei der sehenden Finja der Vergangenheit zu puppenhaften Kulleraugen. Ein Detail, dass die Figur weder hier noch dort interessanter macht. Unter den jugendlichen Darstellern überzeugt eher der taube Jannik; trotz des befremdenden Effekts seiner reduzierten Sprachfähigkeit bringt der gehörlose Schauspieler Constantin Keller Bedrängnis und Angst gut zum Ausdruck.
Während die jungen Protagonisten als Akteure immer wieder zum Handeln gezwungen sind, fungiert die Erwachsenenwelt als retardierendes Moment der Serie. Jeder über 30 wehrt das eingeforderte Schuldeingeständnis auf seine Weise ab. Die, die eigentlich Vorbild sein sollten, leugnen, verdrängen, stürzen sich in Arbeit oder retten sich in wissenschaftliche Theorien. Einzige Ausnahme ist die Ärztin Jamila (Florence Kasumba). Zum Auftakt von Episode 3 blickt der Zuschauer auf ihre Vergangenheit in Tansania zurück. Von ihrem Vater, einem Witch-Doctor hat Jamila den Werkzeugkasten der schwarzen Magie geerbt, mit der sie jetzt die Kinder von Hameln vorm Rattenfänger beschützen will. Wie ihre Altersgenossen ohne Voodoo-Background gerät sie dadurch in höchste Gefahr. „Hameln“ überlässt den Sieg der Jugend. „He, du Pfeife“, ruft Sam dem sagenhaften Feind am Ende zu. In einer Story, die sich viel zu ernst nimmt, bemerkt leider keiner seinen Witz.