„Wir müssen die Kinder loswerden“, sagt die Stiefmutter. Schweren Herzens stimmt der Vater zu – und so lassen die beiden Hänsel und Gretel eines Tages im Wald allein. Der Junge hat die Eltern belauscht, aber wie die Menschen haben auch die Raben Hunger, und sie fressen die Brotkrumen, mit der Hänsel eine Spur gelegt hatte. So können er und seine Schwester nicht mehr nach Hause finden und verirren sich im Wald. Sie sind mutlos – doch plötzlich gehen ihnen die Augen über und ihre Mägen schlagen Purzelbäume. Ein Häuschen aus Lebkuchen, Schokolade und Marzipan steht vor ihnen. „Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“ Eine merkwürdige Frau lädt die Kinder in ihr Reich und zaubert einen Tisch voller Leckereien. Am nächsten Morgen weht ein anderer Wind. Das Schlaraffenland entpuppt sich als das Häuschen einer grausamen Hexe, die Hänsel in ein Verlies sperrt, ihn mästet, um ihn möglichst bald zu verspeisen, und die Gretel mit einem Fluch belegt. Gut, dass sich der Vater eines Besseren besonnen hat und sich auf die Suche nach den Kindern macht. Dabei trifft er auf die schöne Waldfee Marie, die die Hexe aus einem früheren Leben kennt.
Und die Moral von der Geschicht’?
„Vertraue nicht sofort dem äußeren Schein – mag er noch so süß und verlockend sein. Und: Wenn du einen Fehler machst, warte nicht ab, sondern versuche aktiv, dein Fehlverhalten zu korrigieren.“ (Produzent Martin Hofmann, Askania Media)
„Hänsel und Gretel“ ist eines der am häufigsten verfilmten Grimmschen Märchen. Das hat gute Gründe: während sich Kinder von Hänsel und Gretel quasi an die Hand nehmen lassen können, macht das Spiel mit Verführung, Verlockung & Verstellung dieses Schauermärchen auch für Erwachsene interessant. Die Geschichte bietet ein breites Gefühlsspektrum mit hohem Empathiepotenzial. So wurde der Stoff denn auch für die (Opern-)Bühne entdeckt; auch zahlreiche Parodien sind vor allem in den letzten drei Jahrzehnten entstanden. Nach der überzeugenden ZDF-Verfilmung mit Sybille Canonica (2006) und der peinlich Pro-Sieben-Veralberung „Hänsel und Gretel – Ein Fall für Supergranny“ (2007) beweist David Ungureits ARD-Adaption, dass die Hexe, aber nicht dieses 200 Jahre alte Märchen totzukriegen ist.
Uwe Jansons Märchenverfilmung ist einer der Höhepunkte der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“, die 2008 gestartet ist und die es mittlerweile auf 26 Sechzigminüter gebracht hat. Vom Düster-Look geht es kurzzeitig ins vermeintliche Paradies, dann obsiegt das Schreckliche, bevor ein geradezu magisches, bezauberndes Wohlfühlende große und kleine Zuschauer gleichermaßen glücklich aus dem Film entlässt. Dramaturgisch liefert der „Hänsel-und-Gretel“-Mythos den Stoff für eine perfekte universale Erzählung. Was diese Version dem Klassiker hinzufügt, ist eine verführerische, bildgewaltige Optik. Mit Special Effects deckt sich ein Tischlein selbst oder verfärbt sich des Vaters Gesicht; auch haben sich die Macher in der Farbgebung (fast schwarzweiß bis kunterbunt) von „Wizard of Oz“ inspirieren lassen, und im Zauberreich der Hexe sieht es zwischendurch ein bisschen aus wie in „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Diese „Hänsel-und-Gretel“-Verfilmung ist zeitgemäß, ohne sich beim Hollywoodkino anzubiedern. Anja Kling ist bizarr und böse als Hexe und schön als Waldfee. Der bösen eine liebenswerte „Hexe“ gegenüberzustellen, ist ebenso eine kluge Drehbuchidee wie, die Hexe zu einer einst verletzten Kinderseele zu machen. Sehr überzeugend sind die beiden Kinderdarsteller Friedrich Heine und Mila Böhning, die zum visuellen Konzept des Films entsprechend eine große Klarheit im mimischen Ausdruck besitzen. Fazit: märchenhaft aufregend, wunderbar dicht, bezaubernd gespielt, magisch, verführerisch, berührend.