Sie ist jung, sie ist wild, sie ist impulsiv: Lena (Elisa Schlott) lebt in einem sozialen Brennpunkt, ihre Mutter Hannah (Heike Makatsch) bekommt nichts auf die Reihe und so muss sie mithelfen beim Geldverdienen. Ein Putzjob in einem Großraumbüro führt Lena mit Farid (Hassan Akkouch) zusammen. Am Anfang findet sie den überzeugten Moslem blöd: „Meinst du, ich will was mit ‘nem Arab anfangen?“, giftet sie. Er kontert: „Meinst du, ich will ‘ne Bitch?“ Dann schieben sie eine schnelle Nummer auf der Toilette im Büro. Das war‘s. Oder doch nicht? Da ist mehr. Er ist anders als die Jungs auf der Straße. Und so verlieben sie sich. Das fühlt sich gut an. Ihre Mutter kennt so was nicht. Die wird nur ausgenutzt, ihr Chef will ihr kein Zeugnis geben, da rammt sie dessen Auto. Jetzt steht sie ohne Job da. Dann erfährt Lena, dass sie schwanger ist. Sie will das Kind, sie will die Beziehung mit Farid, ist sogar bereit dafür Muslima zu werden. Farids Familie reagiert zunächst skeptisch und ihre eigene Mutter ist geschockt von Lenas plötzlicher Zuwendung zum Islam.
Foto: SWR / Michael Kotschi
Trist und grau ist die Welt der Lena: Plattenbau, Perspektivlosigkeit. Sie weiß sich zu behaupten, hat eine große Klappe und ein freches Auftreten. Aber sie sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit. Und plötzlich ist da einer, der zärtlich ist zu ihr. Was das für sie bedeutet, das zeigt die wohl schönste und intensivste Szene des Films: Abends allein im Großraumbüro tollen Lena und Farid nach Herzenslust herum, spielen wie kleine Kinder Verstecken unter Schreibtischen, liebkosen sich. Hier gibt es keine Grenzen, keine Vorurteile, keine Regeln: Sie sind frei und glücklich. Stephan Lacant inszeniert diesen Moment herrlich unverkrampft und liebevoll; die Szenerie hat etwas Märchenhaftes. Doch schnell springt er wieder in die soziale Wirklichkeit. „Fremde Tochter“ erzählt die Geschichte der Königskinder, die nicht zueinander kommen können, weil sie aus unterschiedlichen Welten und Kulturen kommen mit Tradition, Glauben, Vorurteilen, Widersprüchen und Unverständnis konfrontiert werden. Eine starke, unsentimentale Story zwischen Realität und Märchen, politisch aktuell und sozialkritisch. Ein Selbstfindungsprozess, kompromisslos erzählt. Vielleicht wäre der eine oder andere Nebenstrang verzichtbar gewesen; die (Liebes-)Geschichte von Lena und Farid ist so intensiv, dass sie alleine trägt, und alles drumherum nur ablenkt. Der 12jährige Junge, der vom Vater geschlagen wird, für den Lena die Königin ist, der mit einer Pistole herumfuchtelt, um sie zu beschützen – diese Nebenerzählung hätte es nicht gebraucht. Aber sie stört auch nicht.
Foto: SWR / Michael Kotschi
Lacant ist nicht nur – gemeinsam mit Karsten Dahlem – der Autor, er hat den Film auch inszeniert. Nach „Freier Fall“ (gemeinsam mit Dahlem) und dem Rechtsterrorismus-Drama „Toter Winkel“ ist „Fremde Tochter“ der dritte beeindruckende Film des Regisseurs. Er ist stets sehr nah dran an den Figuren, es gibt kaum Totalen, oft klebt die Kamera (Michael Kotschi) förmlich an den Gesichtern. Und ihm gelingt eine exzellente Milieuzeichnung. Die Siedlung, in der Lena lebt, der Hinterhof, der zu Farid führt, die schmucklose Wohnung der Mutter, das trostlose Büro des Autohändlers, in dem der sich über Mutter und später Tochter hermacht – es sind starke Motive. Sie tragen zu der großen erzählerischen Kraft des Films bei, der sich mit dem Aufeinanderprallen von christlicher Lebenshaltung und dem Islam auseinandersetzt, und dafür Bilder findet, die eher ungewöhnlich, weil gänzlich unspektakulär sind und den Alltag zeigen wollen. Farids Familie, der Sohn am Bett des Vaters, die Gebete in der Moschee, die spielenden Kinder im Hinterhof, der Unterricht – hier ist spürbar, dass man sich lange damit beschäftigt hat, nicht die üblichen Stereotype bedienen zu wollen. Der Film hat auch einen sehr guten Rhythmus, ein großer Verdienst des gelungenen Schnitts. Monika Schindler, kürzlich mit einer Lola für ihr Lebenswerk geehrt, zeichnet dafür verantwortlich.
Dass „Fremde Tochter“ sehr realistisch wirkt, ist auch dem Spiel der drei Hauptdarsteller zu verdanken. Heike Makatsch überrascht in der Rolle der Mutter Hannah; Hassan Akkouch, schon des öfteren im „Tatort“ als Verdächtiger, Dealer oder Knacki zu sehen, überzeugt als Farid durch sein sensibles Spiel. Und Elisa Schlott: Die nimmt einen mit auf eine Reise in die Welt einer 17-Jährigen: kraftvoll und krachend, aber im nächsten Moment auch wieder zart und verwundbar. Die Schauspielerin ist längst keine Entdeckung mehr, spielte im „Tatort – Borowski und der Himmel über Kiel“ und kürzlich in „Das Verschwinden“. Mit der Rolle der Lena wird sie – vollkommen zurecht – noch mehr Aufmerksamkeit bekommen, mit dieser „fremden Tochter“ fühlt man mit, leidet man mit, ist nah am Verzweifeln. Der Schluss ist ein wenig süßlich, aber andererseits auch konsequent. (Text-Stand: 7.11.2017)