Auswanderer-Geschichten haben in den letzten Jahren fast ein Genre für sich gebildet, als Fernsehfilm wie auch als Doku-Soap. Die ARD-Tochter Degeto hat gleich reihenweise die Schicksale weißer Frauen in Afrika erzählt. „Dschungelkind“ von Roland Suso Richter hat mit diesen vorzugsweise melodramatisch-kitschigen Produktionen kaum etwas gemeinsam; und das keineswegs bloß, weil sich die Handlung überwiegend in Westpapua zuträgt.
Das Drehbuch dieses immer wieder verblüffend witzigen Familienfilms basiert auf den gleichnamigen Kindheitserinnerungen von Sabine Kuegler. Ihr Vater wollte die Sprache eines Stammes erforschen, der bis dahin keinerlei Kontakt zur Zivilisation hatte. Also zog die komplette Familie in den tiefen Dschungel, wo sie bei den Fayu heimisch wurde; gerade die beiden jüngeren Kinder wuchsen wie selbstverständlich zwischen den Einheimischen auf.
Gleich vier Autoren (Richard Reitinger, Natalie Scharf, Beth Serlin, Florian Schumacher) waren mit der Adaption der Autobiografie beschäftigt; Richter und Pia Hart haben es zusätzlich bearbeitet. Das Ergebnis ist ein sehr episodisch erzählter Film, dessen Einzelteile mitunter aneinandergereiht wirken. Außerdem bringt es die Vielzahl von Ereignissen fast zwangsläufig mit sich, dass Manches etwas oberflächlich bleibt. Trotzdem ist Richter gerade auch mit Hilfe des Zusammenspiels von Bildgestaltung (Holly Fink) und Musik (Annette Focks) ein herausragendes Werk gelungen, zumal einige Aufnahmen von bezaubernder Schönheit sind. Im Unterschied zu vergleichbarer Fernsehware verzichtet der vorab im Kino ausgewertete Film, der gegenüber der Leinwandversion rund eine halbe Stunde länger ist, auf Ethno-Kitsch und Sentimentalitäten. Auch wenn Familie Kuegler nach und nach Freundschaft mit den Eingeborenen schließt, so bleiben diese nicht zuletzt aufgrund ihrer zum Teil durchaus abstoßenden Sitten und Gebräuche dennoch Fremde, zumal sie auch nicht ihrer Sprache beraubt werden. Weil Richter die Geschichte konsequent aus der Perspektive des zu Beginn circa zehn Jahre alten Mädchens erzählt, betrachtet die Kamera die Mitglieder des Stamms aber buchstäblich nicht von oben herab, sondern mit unvoreingenommener Neugier.
Die episodische Dramaturgie, die auf einen großen Spannungsbogen über 165 Minuten verzichtet, dafür viele kleine etabliert, ist das Herzstück des Films. Gefahren lauern nicht nur im Urwald, sondern auch direkt vor der Haustür: Die Fayu liegen seit langem in einem ständigen Krieg mit einem anderen Stamm; gleich zweimal kommt es vor der Hütte der Kueglers zum rituellen Kampf. Für den roten Faden der Geschichte sorgen einerseits die Figuren, weil gerade die Kinder auf eine Weise miteinander vertraut werden, wie sie Erwachsenen gar nicht möglich ist; und andererseits die subtilen Beeinflussungsversuche der Eltern. Die Kueglers waren auch missionarisch tätig, was der Film nur andeutet. Dass sie mit sanfter Beharrlichkeit versuchen, den Stamm von seinem tödlichen Aberglauben abzubringen, geschieht zudem aus reiner Mitmenschlichkeit: Die Fayu lassen Kranke und Verwundete sterben, weil sie überzeugt sind, auf ihnen liege ein Fluch. Als die Kinder im Dschungel einen kranken Jungen finden, pflegen die Kueglers ihn gesund und nehmen in die Familie auf.
Während Teil eins, der mitunter wie eine anthropologische Studie wirkt und an einstige Kulturfilme erinnert, den Titel „Ankunft“ tragen könnte, geht es in Teil zwei um Abschied. Mit einem einfachen, aber ungemein wirkungsvollem Übergang lässt Richter aus den ausgelassen im Fluss tobenden Kindern junge Erwachsene werden; und Sabine muss sich nun zwischen dem Leben im Dschungel und der Rückkehr in die Zivilisation entscheiden. Gerade im Vergleich zu der Lakonie, mit der Richter die Liebesbeziehung zwischen ihr und ihrem Adoptivbruder schildert, ist der letzte Akt allerdings etwas zu lang geworden. Das fällt unterm Strich jedoch ebenso wenig ins Gewicht wie der mitunter überflüssige Erzähltext der Heldin, zumal beide Darstellerinnen, Stella Kunkat als Kind und Sina Tkotsch als Jugendliche, ihre Sache ausgezeichnet machen. Gleiches gilt für Nadja Uhl und Thomas Kretschmann als Eltern. Gerade Kretschmann ist dank seines sparsamen Spiels die perfekte Besetzung für den in sich ruhenden Vater, zu dem die Kinder unerschütterliches Vertrauen haben.