Doppelhaushälfte

Peschel, Zaree, Bause, Phan-Thi, Yousefi, Hoang Ha. Unter jedem Dach ein Ach

Foto Martina Kalweit

Wohnungsnot und Mietwucher treiben Großstädter aufs Land. Dass vor den Toren der Stadt keine bessere Welt wartet, dämmert einer Patchwork-Familie aus Berlin-Neukölln beim Anblick ihrer neuen Nachbarn. „Doppelhaushälfte“ (ZDF neo / StickUp Filmproduktion) schöpft das komische Potential dieser neuen Nachbarschaft voll aus. Mit derber Komik genauso wie mit feinem Dialog-Witz treibt „Doppelhaushälfte“ sein Personal durch gesellschaftliche Gräben. Acht hübsch überdrehte Momentaufnahmen über das woher und wohin der Bewohner drehen den Diskurs um Chancengleichheit, Diversität und Alltags-Rassismus ins Absurde. Die Pointen sind gut gesetzt, die Realität gerät bei aller Sitcom-Übertreibungen nicht aus dem Blick. Und wo es die Geschichte(n) erlauben, da eskalieren in der „Doppelhaushälfte“ auch mal Kamera, Licht oder Musik. Fazit: Macht einfach Spaß.

Vorm Gartenzaun steht eine junge Frau iranischer Herkunft, ein Mann mit afrikanischen Wurzeln und eine Göre aus Berlin. Hinterm Gartenzaun residiert ein urdeutscher Ex-Polizist, die Gattin – offensichtlich aus Vietnam – und ein Junge, der nicht ganz so geraten ist, wie Papa es sich erhofft hat. Auf den ersten Blick wirkt das Personal der „Doppelhaushälfte“ wie brav aus dem Diversity-Baukasten zusammengesteckt. Viele TV-Formate bestücken ihre Geschichten derzeit aus solch einem Bausatz. In vielen Fällen offenbart sich das eher dem Diktat der political correctness als der originären Geschichte verpflichtet. In vielen Fällen wirkt es steif und ungelenk. Entwarnung: „Doppelhaushälfte“ bleibt da schön locker. Wie im Sitcom- und Comedy-Genre üblich sorgen gegenseitige Vorurteile und Ressentiments für Missverständnisse und sind Voraussetzung für den Witz im Detail. Aber die Autoren lassen jeder Figur ausreichend Luft zum Atmen. Im Mit- oder Gegeneinander der neuen Nachbarn mischen sie Wesenszüge, die man gemeinhin mit bestimmten Kulturen verbindet, ordentlich durch. So erweist sich Neumieterin Mari (Maryam Zaree, „4 Blocks“, „Legal Affairs“) in ihrem Kampf gegen den Alltagsrassismus und ihrer Liebe zu Struktur und Ordnung als „deutscheste“ von allen. Und die alteingesessene Tracy Knuppe (Minh-Khai Phan Ti, „Nachtschicht“) hat zwar Vorfahren aus Vietnam, ihre Wurzeln aber liegen eindeutig in der rauen Welt der Brandenburger Platte. Der Effekt dieser Mischungen: So schnell die Neumieter das Großstadtleben in Berlin vergessen, so schnell schälen sich vor und hinterm Gartenzaun individuelle Sturköpfe aus Bausatz-Raupen heraus. Mit denen kann man Spaß haben.

DoppelhaushälfteFoto: ZDF / Tilo Hauke
Wildwest im Osten und in kurzer Hose: Andi (Milan Peschel) verliert immer mal wieder die Nerven … und schießt nicht auf Tauben.

Wie derb der Spaß werden kann, macht Milan Peschel gleich zu Anfang klar. In der Rolle von Hausbesitzer Andi verkörpert Peschel einen Hänfling, der auf dicke Hose macht. Eine Art Enkel von TV-Ikone „Ekel Alfred“. Aber auch so einer hat mal seine Not, und so sorgt Andi kurz vorm Besichtigungstermin für eine Riesensauerei auf dem Klo der rechten Haushälfte. Andis durchschlagende Verdauung und eine kurz drauf im Strahl kotzende Wohnungs-Interessentin machen klar: Vor derben Übertreibungen schreckt hier keiner zurück. Das zieht sich durch. Jede Episode der „Doppelhaushälfte“ vereint feinen Dialog-Witz mit Eskalationen ins Grobe. Wer das eine nicht mag, kann das andere genießen. Wer die Eskalation nicht braucht, wird sich vor allem über Minh-Khai Phan Ti in der Rolle von Andis Frau Tracy amüsieren. Meist in einen rosafarbenen Hausanzug gewandet, erweist sich diese Tracy als harte Nuss. Mit knapp-pointierten Kommentaren weist sie jedes Gegenüber in die Schranken. Und wenn Andi mal wieder behauptet, kein Weichei zu sein, erinnert sie ihn an seine Tränen beim letzten André-Rieu-Konzert in der Waldbühne. Wie in dieser schönen Szene arbeitet das Dialogbuch gern mit knappen Halbsätzen, Gegenfragen und Stichworten, hinter denen der angetriggerte Zuschauer eine ganze Welt bauen kann. Auch das macht Spaß.

Die sichtbare Welt von „Doppelhaushälfte“ ist ein optisch zweigeteiltes Haus im Speckgürtel von Berlin. Steht man davor, grüßt links grober Putz aus DDR-Tagen. Rechts bringt der weiße Neuanstrich die hölzernen Fensterläden besser zur Geltung. Links rottet altes Gartenmobiliar im selbstgebauten Holzverschlag vor sich hin, rechts ist der Garten bereit für Neues. Links lauern Türzargen in diversen Brauntönen, ein Kunstledersofa und ein kitschiges Poster-Ensemble im Wohnzimmer, rechts ist alles hell, weiß und angenehm leer. Links, kein Stil, aber gepflegter Rasen. Rechts, viel Style, aber kaum Rasen. Das macht nichts: Im Auge des gestressten Neuköllners über 30 ist die rechte Hälfte ein Traum. Nur Pubertierende wollen hier nicht tot überm Zaun hängen. Auch bei den Neumietern Mari, ihrem Mann Theo (Benito Bause) und der pubertierenden Zoe (Helena Yousefi) geht der Riss quer durch. Der Dramaturgie öffnet das viele Türen: Wer hier überleben will, muss ungewöhnliche Allianzen schmieden und die neu eroberte Komfortzone gleich wieder verlassen. Das liefert genug Stoff für acht Episoden. Und auch was fürs Auge. Ausstattung und Szenenbild haben nicht nur im Mikrokosmos um die Doppelhaushälfte genau hingeschaut. Links und rechts der Dorfstraßen finden sich immer wieder die typischen Versatzstücke versuchter Individualität im Immergleichen. Hinter alten Zäunen ragen unterschiedlich verzierte Sichtschutzelemente aus dem Baumarkt hervor. Unaufdringlich, aber sichtbar haben die Szenenbildnerinnen Reinhild Blaschke und Merle Vorwald rund um die Doppelhaushälfte mehr Realismus verbaut als das in vielen Dorfgeschichten – vor allem den idyllisch-historisierenden – üblich ist.

DoppelhaushälfteFoto: ZDF / Max Preiss
Sturmfreie Bude und eine Kiff-Expertin als Nachbarin. Theo (Benito Bause, „All you need“) ist bald mehr als platt.

Auch thematisch nimmt „Doppelhaushälfte“ das wirkliche Leben in den Blick. Geht es vordergründig um Vor- und Nachteile eines Gasgrills, um berufliche Konkurrenz oder modische Vorlieben, spielt jede Episode auf zweiter Ebene ein grundlegendes gesellschaftliches Problem durch. Witzig versteht sich, geht es dabei um Gewalt (gewollt, ungewollt, nötig oder vermutet), um Drogen (kiffen, saufen oder gepflegt Rotwein trinken) oder um die Grenzen und Gefahren der übertriebenen Selbstoptimierung. Die Autoren Dennis Schanz („Skylines“) und Christoph Mushayija verbinden klassische Sitcom-Elemente mit dem Anspruch mehr in den Blick zu nehmen als nur die individuellen Macken einer Figur. Während sich der Zuschauer über die Bewohner beider Doppelhaushälften amüsiert, erfährt er auch, woher deren Macken kommen. Warum Andi den starken Mann markiert, während Nachbar Theo auf Ausgleich und Harmonie bedacht ist. Warum Mari eher streng auftritt und ihre Nachbarin Tracy betont lässig daherkommt. Gespiegelt werden diese Rollenbilder in Zoe (Helena Yousefi) und Rocco (Minh Hoang Ha). Sie schwer pubertierend, er ein pummeliger Außenseiter von angeblich geringem Verstand, fungieren die beiden als stille Beobachter der skurrilen Erwachsenenwelt. Ein paar Szenen, die ihnen jeweils allein gehören, reichen aus, um sie als echte Charaktere zu zeichnen. Als solche sorgen beide für schöne Pointen.

Wo es die Geschichte(n) erlauben, eskalieren in der „Doppelhaushälfte“ auch mal Kamera, Licht oder Musik. Am auffälligsten in Episode 3 mit dem bezeichnenden Untertitel „Schall und Rauch“. Wenn Tracy ihren Neu-Nachbarn Theo in die Freuden des Cannabis-Genusses einweiht, ist das der richtige Anlass, um Trugbilder einzubauen, farbige Lichtpunkte zu setzen und mal näher ranzugehen als sonst. Auch die dramatische Orchestrierung dieser Episode fällt aus dem Rahmen. Aber nichts läuft aus dem Ruder, nichts ist Selbstzweck. Für die ersten acht Folgen sorgt das Ensemble für gute Unterhaltung und echte Lacher. In der zentralen Figur des Andi kommt Milan Peschel erfreulicherweise wieder über den reinen Nonsens seiner Kino-Rollen bei Matthias Schweighöfer („Schlussmacher“, „Vaterfreuden“) und Til Schweiger („Klassentreffen 1.0“, „Die Hochzeit“) hinaus. Die erste Staffel erweist sich damit als solide gebautes Fundament. Ob es zu mehr reicht? An einem Haus ist ja immer was zu tun.

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Serie & Mehrteiler

ZDFneo

Mit Milan Peschel, Minh-Khai Phan-Ti, Maryam Zaree, Benito Bause, Helena Yousefi, Minh Hoang Ha, Peer Martiny, Leon Ullrich, Christina Große

Kamera: Tilo Hauke, Antonio Paladino, Max Preiss

Szenenbild: Reinhild Blaschke, Merle Vorwald

Kostüm: Freya Herrmann

Schnitt: Friederike Hohmuth, David Kuruc

Musik: The Royals

Redaktion: Lucia Haslauer (ZDF), Carina Bernd (ZDF neo)

Produktionsfirma: Stick Up Filmproduktion

Produktion: Dennis Schanz, Luis Singer

Drehbuch: Dennis Schanz, Christoph Mushayija Rath

Regie: Dennis Schanz, Christoph Mushayija Rath, Barbara Kronenberg, Florian Dietrich

EA: 08.03.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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