Vier Jahre nach dem Mord an einem Teenager ist das idyllisch gelegene Ostseestädtchen Nordholm ein weiteres Mal Schauplatz eines Verbrechens: Am Fuß der Steilküste liegt Jakob Thomsen, ein Mann, der zu den Verlierern im Ort gehört. Schwer zu sagen, ob er gesprungen ist oder gestoßen wurde. Hella Christensen (Barbara Auer), die zwischenzeitlich in Kiel gearbeitet hatte, glaubt an Selbstmord. Simon Kessler (Heino Ferch) von der Kripo Hamburg, der die Ermittlungen leitet, würde hingegen einen erweiterten Suizid nicht ausschließen – zumal Mutter und Tochter der Familie verschwunden sind, während Sohn Tom (Timo Hack) gerade von einer Klassenfahrt zurückgekehrt ist. Seltsamerweise will dieser auf gar keinen Fall bei seinen Großeltern, Ulrike und Gustav Hansen (Ulrike Kriener und Dietrich Hollinderbäumer), wohnen. Ebenso überraschend ist für die Kommissarin, dass ihr Mann Johannes (Rainer Bock) den Nachbarjungen der befreundeten Familie nicht bei ihnen zu Hause aufnehmen möchte. Und so kommt der traumatisierte Tom ausgerechnet bei Silke Broder (Anja Kling) unter, der Mutter des vor vier Jahren ermordeten Mädchens. Die Suche nach Anna und Lilly Thomsen ist erfolglos. Sollten die beiden noch leben, bleibt nicht mehr viel Zeit… Als Hella Christensen versehentlich das Handy ihres Mannes einsteckt, traut sie ihren Augen nicht. Hat die Zeit in Kiel ihre Ehe so sehr beschädigt? Um ihr Familienleben zu schützen, hält sie wichtige Informationen zurück und verschleppt so die Ermittlungen.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Es gibt seit Jahren immer mehr Filme, die das Krimi-Sujet nutzen, um am Ende ein kapitales Drama zu erzählen. „Die verschwundene Familie“ von Thomas Berger verfährt umgekehrt: Der Zweiteiler, der druchaus als Krimi-Drama bezeichnet werden kann, bleibt 180 Minuten lang ein klassischer Krimi, der allerdings das Genre mit Drama-Elementen belebt, indem er beispielsweise die „Objektivität“ des Falls um die subjektive Sicht der Ermittler erweitert, und die Geschichte mit dieser persönlichen Erzählweise insgesamt vielschichtiger und emotional interessanter macht. Autor-Regisseur Berger ermöglicht damit mehrere Zugänge zum Geschehen. So funktioniert der Film durchgehend als Whodunit, bei dem sich die Zuschauer im Verlauf der Handlung stets ihren eigenen Reim auf den dörflichen Mikrokosmos machen können. Ob der vielen Lügen und Geheimnisse bleibt es bei Annahmen und Mutmaßungen. Nichts Genaues weiß man nicht. Auch die Kommissare sind einem da nicht immer eine Hilfe. Oft hat man als Zuschauer ohnehin den Eindruck, mehr zu wissen als die ungleichen Ermittler, deren Kommunikation alles andere als transparent ist und die sich offenbar nicht über den Weg trauen. Und obwohl einige der Dorfbewohner ziemlich viel Dreck am Stecken haben müssen, damit der Plot am Ende nach den Regeln der Krimilogik aufgeht und damit es zwischendurch genügend Fährten gibt, die nur selten zielführend sind, aber verfolgt werden können, hat man als Zuschauer nie das Gefühl, sich in diesem Nordholm zu verlieren.
Wer Thomas Bergers Zweiteiler „Tod eines Mädchens“ kennt, der hat von Anfang an mit Kessler und Christensen und deren Darstellern Heino Ferch und Barbara Auer eine hochkarätige Orientierungsmarke. Da die Polizistin, die zu nahe dran ist an den Bewohnern in ihrem Heimatort, die Ehefrau, die emotional „angeschossen“ wirkt. Dort der Mann aus Hamburg, der einfach nicht besonders kann mit Menschen und keine Rücksichten kennt. Sie verschweigt ihm, dass ihr Mann in den Fall involviert zu sein scheint, er brüllt ihr mehrfach unverschämt ins Gesicht. Ein so konsequent unversöhnliches Ermittlerduo ist hierzulande eine Seltenheit. In Krimi-Reihen fremdelt man allenfalls ein, zwei Episoden miteinander, in den beiden Zweiteilern um Kessler und Christensen gehören diese emotionalen Betriebsstörungen jedoch zum Herzstück der Filme. Vor allem Simon Kessler wäre gern ein bisschen anders, er kommt nur so selten dazu. Wenn er abends mit seinem vierjährigen Sohn telefoniert oder sich nachts in seinem Hotelzimmer sinnlos betrinkt, wird die andere Seite dieses Mister Cool sichtbar. Und ausgerechnet dieser Kessler ist es, der mit dem traumatisierten Jungen das größte Mitleid hat und ihn zunehmend unter seine Fittiche nimmt. Christensen bleibt bald nur noch das Lecken der eigenen Wunden. Am Ende aber hat sie den richtigen Riecher.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
Diente für den ZDF-Zweiteiler „Tod eines Mädchens“ (2015) noch die britische Serie „Broadchurch“ deutlich als Vorbild, ist nun, vier Jahre später, „Die verschwundene Familie“ ein sehr viel eigenständigeres Krimi-Drama.
„Wir wollen erzählen, welche Auswirkungen das Verbrechen auf Nordholm und seine Einwohner hat … Polizeiarbeit ist oft ein langwieriges Stöbern, eine Suche nach Spuren und Indizien. Manchmal finden ermittelnde Beamte nur per Zufall einen endgültigen Beweis. Das ist eine ehrenwerte Arbeit. Emotional wird sie aber nur, wenn der Fall die Polizisten auch persönlich berührt. Wenn die Beamten seine Aufklärung zu ihrer Sache machen.“ (Thomas Berger, Buch und Regie)
Barbara Auer und Heino Ferch spielen ihre Rollen klar und konsequent, und sie bleiben dabei in ihren „eigensinnigen“ Charakteren gefangen. Ein dezentes Lächeln oder eine private Frage zwischen den beiden Ermittlern gibt es erst ganz zum Schluss. Ein ähnlich eisiges Verhältnis besteht bis zur Zielgeraden auch zwischen Kessler und Broder, der Opfermutter aus „Tod eines Mädchens“. Eines Abends liest sie ihm gehörig die Leviten: Er habe keine Sekunde Mitgefühl gehabt, habe eine kaltschnäuzige, überhebliche Art. Dann küsst sie ihn. Keine Reaktion. Doch Kessler bleibt nicht gänzlich verschlossen. Er braucht offenbar ein wenig Zeit, um diesen „Schock“ zu verarbeiten. Ein paar Szenen später sehen sich Ferch und Kling schon einen Tick entspannter in die Augen. Diese Szenen sind kein Liebesbekenntnis, sie erweitern vielmehr das Spektrum der Hauptfigur, sie lassen den arroganten Popanz zum Menschen werden.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
Szenen wie diese gehören zu den Höhepunkten des Films. Auch weil sie unerwartet kommen. Ansonsten halten sich standardisierte Atmosphäre-Bilder und Wow-Ansichten die Waage. Immer wieder fliegt die Kamera auf die malerische Steilküste zu, immer wieder blicken markante Männergesichter bedeutungsschwer in die Ferne, und immer wieder wird das weitläufige Anwesen der Hansens in Augenschein genommen. Dass sich Reichtum auch anders darstellen lässt, zeigt eine ebenso charismatische wie schwer durchschaubare Nebenfigur, der von Rüdiger Vogler verkörperte Schriftsteller Hendrik Holler. Szenen mit ihm – egal, ob Kessler oder Christensen, die offensichtlich seine Muse ist, ihm die Ehre geben – besitzen im Gegensatz zum alten Hansen, bei dem sich letztlich alles nur ums liebe Geld dreht, etwas angenehm Spielerisches. Visuell reizvoll wird es immer dann, wenn die Bilder mehrschichtig erzählen. Wenn beispielsweise in der Schlussszene des ersten Teils vor Hella Christensens Augen ein Tagtraum abläuft. Sie sieht die Thomsens am Tisch sitzen. Es ist der Traum einer glücklichen Familie. Auch im zweiten Teil erscheint ihr Anna Thomsen noch einmal vor ihrem geistigen Auge. Das sind stimmungsvolle Projektionen ihres Seelenlebens.
Fazit: Ein Zweiteiler steht und fällt mit seiner narrativen Konstruktion. In „Die verschwundene Familie“ gibt es allenfalls auf der Zielgeraden ein paar Ungereimtheiten (sollte etwa die KTU beim Mordopfer keine gute Arbeit geleistet haben?). Die Auflösung am Ende aber bleibt spannend, nachvollziehbar und weniger kryptisch als bei vielen anderen Krimis. Damit gelingt Autor-Regisseur Thomas Berger der Spagat zwischen Krimi und Drama, zwischen Whodunit und Protagonisten-Psychologie, zwischen Handlung(svielfalt) und Atmosphäre, zwischen Dramaturgie und glaubwürdiger Alltagsnähe. Der ZDF-Film ist gut und prominent besetzt, aber er ist ein weniger offensives FC-Bayern-likes Schaulaufen deutscher Fernseh-Größen als 2015 „Tod eines Mädchens“. (Text-Stand: 15.12.2018)