Schlimmer geht immer. So ließe sich das inoffizielle Motto der Hamburger Supermarktfiliale zusammenfassen, die im Zentrum der Mockumentary-Serie „Die Discounter“ steht. Im „Feinkost Kolinski“ in Billstedt (Staffel 1 + 2 spielten noch in Altona) läuft erfahrungsgemäß schief, was schief laufen kann, verhalten sich Menschen maximal dumm und ungeschickt, verkehren sich Pläne zumeist in ihr genaues Gegenteil, kurz, offenbaren sich tagtäglich menschliche Unzulänglichkeiten in ihrer ganzen Vielfalt und Grenzenlosigkeit. Womit es grundsätzlich sehr, sehr peinlich wird: Das Fremdschäm-Potenzial ist hoch in der Amazon-Prime-Serie frei nach dem niederländischen Vorbild „Vakkenvullers“, die nun mit der vierten Staffel, ausgestrahlt in zwei Blöcken, endet.
Eine Entscheidung, die wohl richtig ist – und dennoch die vielen Fans einigermaßen untröstlich zurücklässt. Zumal nach einer vierten Staffel, die, zumindest in ihren der Presse vorab zugänglichen ersten vier Folgen, noch einmal alles gibt. Und sich schließlich sogar mutig auf einen neuen Tonfall, eine völlig neue Stoßrichtung einlässt: Es wird klimapolitisch. Mit dem Thema ist es den Serienmachern, den Zwillingen Emil und Oskar Belton sowie Bruno Alexander, spürbar ernst. Zugleich gelingt es ihnen aber auch, die Kern-DNA der „Discounter“ zu bewahren, eine atmosphärische Balance herzustellen zwischen dem dringlichen Anliegen und den gewohnt peinlich agierenden Protagonisten. Man darf gespannt sein, ob die weiteren Episoden dieses durchaus fragile Gleichgewicht zu halten vermögen.
Zur Belegschaft gehören nach wie vor der diesmal (natürlich nicht ohne Hintergedanken!) überraschend diszipliniert auftretende Filialleiter Thorsten (Marc Hosemann), seine Stellvertreterin Pina (Klara Lange), die einzige kompetente Kraft des ganzen Supermarktes, der komplett überforderte Sicherheitschef Jonas (Merlin Sandmeyer), die wiederum völlig unterforderte und darüber zynisch gewordene Lia (Marie Bloching), der Halbstarke Peter (Ludger Bökelmann), Flora (Nura Habib Omer) mit der großen Schnauze, der coole, gegenüber Peter aber auch immer etwas unterwürfige Samy (David Ali Rashed) sowie Doris Kunstmann als Urgestein Frau Jensen, die ebenso wie Wilhelm (Wolfgang Michael) schon seit Jahrzehnten bei Kolinski in Lohn und Brot steht. Und natürlich Titus (Bruno Alexander), der zwar mittlerweile beim Konkurrenzmarkt in Eppendorf arbeitet, deshalb aber nicht vergessen ist. Im Gegenteil! Ein zentraler Erzählstrang widmet sich Thorstens und Jonas’ Sehnsucht nach dem Freund – herrlich groteske Szenen sind das, wenn diese beiden wie pubertierende Verliebte von Titus schwärmen. Wenn sich nun Jonas wie ein Cyrano de Bergerac für Arme daran macht, gefakte „Liebes“-Briefe zwischen der Billstedter und der Eppendorfer Kolinski-Filiale hin- und herzutragen, dann ist natürlich auch klar, dass das nicht gut ausgehen wird.
Die vierte Staffel der „Discounter“ überzeugt, auch indem sie den allzu fiesen Ton, der die dritte Staffel gelegentlich ein wenig trübte, weitgehend vermeidet. Klar, der raue Umgang gehört hier grundsätzlich dazu, ebenso wie der gelegentliche Fäkalhumor und die vulgären Witze. Überhaupt geht es zwischen Laderampe, Lagerraum und Kühltruhe ziemlich viel um Sex, oder, präziser: sexuelle Triebabfuhr. Zimperlich behandelt die Serie ihre genüsslich überzeichneten Protagonisten also nicht, schließlich zielen „Die Discounter“ primär auf das Herstellen von Fremdscham ab. Ein bisschen wie in „Jerks“ von Christian Ulmen, der die Belton-Zwillinge und Bruno Alexander einst „entdeckte“ und „Die Discounter“ mit seiner Produktionsfirma Pyjama Pictures produzierte – nur besser. Doch gilt in diesem Genre eben auch: Zu gemein darf es nicht werden, sonst haben die Zuschauenden ein Identifikationsproblem mit ihren Helden. Zum ganz überwiegenden Teil bekommt das Hamburger Drehbuch- und Regietrio, das unter dem Namen „Kleine Brüder“ fungiert und auch hinter der Joyn-Impro-Serie „Intimate“ sowie der ARD-Reality-TV-Satire „Player of Ibiza“ steht, dieses Austarieren zwischen fies und nicht zu fies gut hin.
Dabei greifen die Beltons und Alexander auf die gewohnten Mittel der „Mockumentary“ zurück, der Fake-Dokumentation. Man kennt diese etwa aus „Stromberg“, an das die Serie mit ihrem inkompetenten sowie in Teilen größenwahnsinnigen Personal durchaus erinnert: Auch bei den „Discountern“ wird der Arbeitsalltag von einem fiktiven Fernsehteam begleitet, das die Supermarktangestellten in Interviews befragt, meist aber einfach beobachtet, teils vermeintlich heimlich, und die Protagonisten somit regelmäßig bei ihrem unprofessionellen Tun ertappt. Die Kameraführung ist dabei bewusst ungeschönt, teils wacklig; die Figuren sprechen in die Kamera und beziehen den Blick von außen sichtbar in ihr Handeln mit ein. Ein richtiges Drehbuch gibt es nicht, nur grobe Handlungsanweisungen – die Dialoge und Interaktionen sind großteils improvisiert. Womit man beim stärksten Pfund der „Discounter“ angekommen wäre: den grandiosen Schauspielern. Allen voran Marc Hosemann, der es in der Darstellung absoluter Vollpfosten zu wahrer Meisterschaft gebracht hat. Aber auch der komplette restliche Cast ist auf den Punkt ausgewählt und unglaublich gut, stellvertretend sei hier der präzise aufspielende Merlin Sandmeyer erwähnt.
Sie alle kreieren Charaktere von erstaunlicher Tiefe, die gemeinsam eine wilde, respektlose, stinkfaule, egozentrische, destruktive, von den eigenen Trieben beherrschte und in all dem wahnsinnig lustige Truppe bilden. Es liegt nun einmal eine besondere Faszination darin, Auge in Auge mit gnadenlos freigelegten menschlichen Abgründen zu stehen – und die „Kleinen Brüder“ zeigen sich in dieser Disziplin als große Könner. Vom Erfolg dieser mit Frische, Humor und perfektem Timing hergestellten Serie künden im Übrigen auch die teils sehr prominenten Gastauftritte; in der vierten Staffel tauchen etwa Fahri Yardim, Anke Engelke und Luisa Neubauer als sie selbst auf. Warum das Ende der Serie dennoch richtig ist? So langsam, ahnt man, sind die Figuren tendenziell auserzählt. Und bekanntlich soll man gehen, wenn’s am schönsten ist. In diesem Sinne: Danke für viele, viele Stunden bester und klügster Unterhaltung, ihr Kolinskis!