Kalt bis ans Herz. „Borchert und der eisige Tod“
Wenn’s den Städter auf’s Land verschlägt, hat das meist unangenehme Folgen; das ist im Krimi nicht anders als in der Komödie. Deshalb liegt der besondere Reiz des zehnten Krimis mit Christian Kohlund als Zürcher Anwalt Thomas Borchert in der Konfrontation des weltgewandten Juristen mit einer fast archaisch anmutenden Welt, die nach völlig anderen Regeln funktioniert: In den Dörfern oberhalb des Alpentals Prättigau scheint die Zeit schon seit geraumer Zeit stillzustehen. Die widrigen Witterungsbedingungen tun ein Übriges. Es ist tiefer Winter, ein Lawinenabgang macht die Rückkehr aus dem Bergdorf Vent unmöglich, und die Einheimischen reagieren unverhohlen feindselig auf den Städter, der seine Nase in Angelegenheiten steckt, die ihn nichts angehen: Vor elf Jahren ist Franz Brosi (Siemen Rühaak) aus Vent wegen eines heimtückischen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Pflichtverteidigerin war damals Borcherts Kanzleipartnerin Dominique Kuster (Ina Paule Klink), auf deren Hilfe der geständige Angeklagte jedoch keinerlei Wert legte. Der Fall schien in der Tat klar: Ein junger Banker hatte den Schreiner aufgefordert, umgehend seinen Kredit zurückzuzahlen, andernfalls werde sein Haus zwangsversteigert; daraufhin hat ihn der Mann erschossen. Ein Brief mit dem einfachen Satz „Franz Brosi ist unschuldig“ sorgt dafür, dass das Anwaltsduo den Fall gegen den Willen des Häftlings wieder aufrollt. Während Dominique die Ermittlungsakten besorgt, reist Borchert in die Vergangenheit. Er braucht nicht lange, um zu ahnen, dass sich die Ereignisse damals vermutlich ganz anders abgespielt haben.
Foto: Degeto / Roland Suso Richter
Bewertung im Detail:„Borchert und der eisige Tod“ hat sich 4,5 Sterne verdient, „Borchert und der Mord im Taxi“ ist gut für fette 4 Sterne, während „Borchert und die Zeit zu sterben“ mit 3,5 Sternen bewertet wird.
Das Buch zu „Borchert und der eisige Tod“ stammt wieder von Wolf Jakoby, der die Reihe nach dem eher enttäuschenden Auftakt („Borcherts Fall“, 2016) übernommen und gemeinsam mit Roland Suso Richter auf ein stellenweise sehr gutes Niveau gehoben hat. Die beiden waren gemeinsam für „Borchert und die tödliche Falle“ verantwortlich; der Hochspannungs-Thriller war einer der packendsten Krimis 2020. Richter hat auch die aktuelle Trilogie inszeniert. Gerade der Auftakt ist handwerklich erneut herausragend. Für die Bildgestaltung war Andrés Marder zuständig, der Max Knauer, Richters bisherigen Kameramann bei den „Zürich-Krimis“, kongenial vertritt. Die Schneeaufnahmen bilden einen reizvollen Kontrast zu den blauschwarz geprägten Stadtszenen. Obwohl Borcherts Begegnungen mit den Menschen aus Vent auch im übertragenen Sinne frostig sind, sorgen Lichtinseln für eine gewisse Behaglichkeit; die Außenaufnahmen verbreiten mitunter die Stimmung von Weihnachts-Postkarten. Auch die Drohnenaufnahmen erfüllen ihren Zweck, weil sie verdeutlichen, wie deplatziert sich der Städter fühlt, wenn er einsam durch den Schnee stapft (die Alpenszenen sind in Scuol, dem früheren Schuls, in Graubünden entstanden). Bei aller Bewunderung vor der Umsetzung steht jedoch über allem die Geschichte, denn je tiefer Borchert in der Vergangenheit gräbt, desto rätselhafter wird die Angelegenheit. Eine Investorengruppe wollte damals die Gegend rund um Vent touristisch erschließen. Das wird den fremdenfeindlichen Einheimischen nicht gefallen haben; aber das ist nicht mal die Hälfte der finsteren Wahrheit.
Foto: Degeto / Roland Suso Richter
Großen Anteil an der Qualität des Films hat wie gewohnt Richters Arbeit mit dem Ensemble, und es ist natürlich kein Zufall, dass er selbst kleine Rollen namhaft besetzt hat (allerdings größtenteils mit deutschen Schauspielern, weshalb kaum jemand Schwyzerdütsch spricht), zumal er auf diese Weise geschickt die Neugier schürt. Max von Pufendorf zum Beispiel tritt unmittelbar nach Borcherts Ankunft in den Bergen als Hotelbesitzer auf, aber selbstredend hat Richter ihn nicht nur für diese kurze Szene engagiert. Auch die weiteren Nebenfiguren sind sehr prägnant besetzt, etwa mit Wolf-Dietrich Sprenger als Förster, der damals die Leiche gefunden hat, oder Kyra Kahre als Tochter der Brosis. Johanna ist angeblich nach Kanada ausgewandert, lebt in Wirklichkeit aber in einem gemischten Kloster in der Nähe. Hier findet Borchert Asyl, als ihm der mürrische Gasthofbesitzer (Andreas Hoppe) nach der Lawine ein Obdach verweigert. Richter inszeniert den Schauplatz als Mischung aus Zuflucht und Bedrohung: Als Borchert entdeckt, dass ein unterirdischer Geheimgang die beiden Klosterhälften verbindet, will er mit Johanna sprechen, wird im Tunnel jedoch beinahe Opfer eines Mordversuchs. Jetzt verbeißt er sich erst recht in den Fall; mit seinem Hut wirkt er wie ein verwitterter Rächer aus einem Winter-Western.
Ein Herz für Afrika. „Borchert und der Mord im Taxi“
Im zweiten neuen Fall ermittelt Borchert im gewohnten Revier, und das gilt nicht nur für Zürich, sondern auch für die Welt der Reichen und Superreichen. Nach der Ermordung eines Afrikaners kommt der Anwalt einem Betrug in großem Stil auf die Spur, in den diverse einflussreiche Schweizer Geschäftsleute und Politiker verwickelt sind, die ihre miesen Machenschafen auch noch mit dem Deckmantel der Humanität kaschieren. Das kann der Anwalt zunächst natürlich noch nicht ahnen, als er seine treue Seele, den Taxifahrer Bürki (Andrea Zogg), etwas unfreiwillig zum Auto eines Kollegen begleitet: Jürg Zollinger (Tim Kalkhof) hat einen toten Fahrgast, und weil der junge Mann für seinen Jähzorn bekannt ist, steht er nun unter Mordverdacht, obwohl er beteuert, es sei ein zweiter Mann an einer Ampel ausgestiegen. Weil Bürki für Jürgs Unschuld bürgt, nimmt sich Borchert der Sache an. Er findet heraus, dass der Tote, Nuka Balouba, aus der Republik Kongo stammt und ein internationales Renommee als investigativer Journalist genießt, weil er die Weltöffentlichkeit unter anderem auf das Schicksal der Kinderarbeiter in den Kobaltminen aufmerksam gemacht hat; gut möglich, dass er sterben musste, weil er mächtigen Gegenspielern zu neugierig geworden ist. Borcherts Ermittlungen führen ihn unter anderem zu einer Referentin (Sarah Bauerett) ins Außenministerium, die die Schweizer Hilfsprojekte für Afrika koordiniert, sowie zu der Wohltätigkeitsorganisation „Unser Herz für Afrika“. Deren Gründer (Sebastian Rudolph) genießt wegen seines Engagements auch gegen die Kinderarbeit im Kongo hohes Ansehen und animiert die Zürcher Honoratioren regelmäßig zu großzügigen Spenden.
Foto: Degeto / Roland Suso Richter
Das Drehbuch zum insgesamt elften „Zürich-Krimi“ stammt von Leo P. Ard (alias Jürgen Pomorin), der seit vielen Jahren regelmäßig für Krimireihen und -serien wie „Ein starkes Team“, „Marie Brand“ oder „Der Staatsanwalt“ schreibt. Das setzt unter anderem eine gute Anpassungsfähigkeit voraus, denn der Formatcharakter solcher Reihen bezieht sich ja nicht nur auf die Hauptfiguren, selbst wenn die jeweilige Atmosphäre vor allem eine Frage der Umsetzung ist. Die Inszenierung von „Borchert und der Mord im Taxi“ hat wieder Roland Suso Richter besorgt, für die Bildgestaltung war diesmal wie schon bei Richters früheren „Zürich-Krimis“ Max Knauer zuständig. Selbst wenn die Aufnahmen nicht so kunstvoll sind wie zuletzt für „Borchert und der eisige Tod“ (Kamera: Andrés Marder): Den beiden ist es erneut gelungen, den Look des Films deutlich aufwändiger als bei durchschnittlichen Fernsehproduktionen wirken zu lassen. Auch die Intensität ist nicht mehr ganz so hoch wie beim ersten Film der neuen Trilogie, weil sich Borchert wieder auf vertrautem Terrain bewegen kann. Der Krimi fasziniert daher in erster Linie durch seine Geschichte, mit der Ard sehr gut den Tonfall der Drehbücher von Wolf Jakoby getroffen hat. Das gilt nicht nur für die Komplexität der Handlung, sondern auch für die differenzierte Figurenzeichnung. Der Journalist hat seine Frau Malia (Sheri Hagen) nie darüber informiert, welchen Skandalen er auf der Spur war, um sie zu schützen. Bei sämtlichen anderen Beteiligten bleibt dagegen bis zum Schluss offen, ob oder wie sie in den Tod des Afrikaners verwickelt sind.
Sympathisch und gut integriert sind auch die kleinen Ereignisse am Rande, die mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun haben, aber weit mehr als bloß Fugenfüller sind. Der Film beginnt mit einem bösen Absturz Borcherts in seiner Stammbar, und wie er am nächsten Morgen mehrfach um den bitter benötigten Kaffee gebracht wird, ist sehr amüsantes Beiwerk. Die Geschichten scheinen sich ohnehin mehr und mehr auf den Anwalt ohne Lizenz zu konzentrieren, Dominique ist auch diesmal eher eine Nebenfigur; richtig viel zu tun hat Ina Paule Klink daher nicht. Im Grunde reduziert Ard sie auf ihre Liebelei mit Hauptmann Furrer (Pierre Kiwitt), der nicht an die Unschuld des Taxifahrers glaubt, was die Beziehung nicht leichter macht. Irritierend ist auch zwischendurch eine optische Marotte: Aus einem zumindest inhaltlich nicht erklärbaren Grund geht Knauers Kamera mitunter so nah an die Gesichter der Schauspieler ran, dass sie ihnen zum Teil ins Ohr zu kriechen scheint. Bei Kalkhof ließe sich das mit dem Versuch erklären, Jürgs latente Aggressivität zu verdeutlichen, aber bei anderen Figuren wirkt das bloß aufdringlich. Knauers Lichtgestaltung ist allerdings wieder formidabel.
Foto: Degeto / Roland Suso Richter
Über den Tod hinaus. „Borchert und die Zeit zu sterben“
Nach dem Ausflug in die Alpen und den Machenschaften rund um eine gemeinnützige Organisation kehrt der Abschluss der aktuellen Trilogie zum Muster der ersten Filme zurück: „Borchert und die Zeit zu sterben“ ist ein klassischer Wirtschaftskrimi mit Elementen einer Familientragödie. Das Drehbuch hat diesmal wieder Wolf Jakoby geschrieben. Weil seine Geschichte an „Borchert und die tödliche Falle“ anknüpft, kann er gleich zwei Vater/Tochter-Dramen erzählen: Nach dem Tod des Uhrenherstellers Ludwig Sutter erben die zwei Söhne Michel und René zu gleichen Teilen die renommierte Manufaktur. Die schockierte Tochter Anna (Eugenie Anselin) geht nicht nur leer aus, das Testament verwehrt der gelernten Uhrmacherin auch ausdrücklich jede Mitwirkung. Michel (Wolf Danny Homann) würde sich über den letzten Willen des strengen Vaters hinwegsetzen, aber René (Konstantin Marsch) bleibt hart. Anna will das Testament anfechten und bittet Dominique um Hilfe. Als René offenbar im Affekt erschlagen wird, fällt der Verdacht selbstredend auf seine Schwester. Für den Geschmack von Borchert ist die Indizienlage allerdings etwas zu eindeutig, und tatsächlich stößt er bald auf eine von chinesischen Investoren finanzierte Firmengruppe, die bereits diverse Schweizer Traditionsfirmen übernommen hat. René hat einen Verkauf ebenso abgelehnt wie sein Vater, aber würde das Unternehmen tatsächlich über Leichen gehen?
Foto: Degeto / Roland Suso Richter
Versierte Krimi-Fans werden die Antwort früh ahnen, doch das ist nicht der Hauptgrund, warum der dritte Film nicht die Klasse der beiden anderen besitzt. Der wirtschaftliche Hintergrund ist zwar interessant, aber der lebenslange Konflikt zwischen Vater und Tochter ist naturgemäß wesentlich emotionaler; der Patriarch hat die junge Frau selbst nach seinem Tod noch dafür bestraft, dass ihre Mutter, seine große Liebe, bei ihrer Geburt gestorben ist. Borchert ist instinktiv von ihrer Unschuld überzeugt und sorgt angesichts des Dramas dafür, dass sich sein Freund Reto (Robert Hunger-Bühler) mit Dominique versöhnt. Die ohnehin schwierige Beziehung seiner Kanzleipartnerin zu ihrem Vater ist endgültig zerbrochen, als sich herausstellte, dass er, wenn auch nur indirekt und ohne es zu ahnen, in ihre Geiselnahme in „Borchert und die tödliche Falle“ verwickelt war.
Optisch bewegt sich „Borchert und die Zeit zu sterben“ auf dem gewohnten herausragenden Niveau der Reihe, auch wenn Richter und sein Editor Christian Pilsl einige eigentlich ruhige Szenen durch unnötig viele Schnitte zerfleddern. Da sich die hohe Schnittfrequenz inhaltlich nicht erklären lässt, wirkt sie etwas unmotiviert; womöglich wollte der Regisseur der aufgrund des großen Erklärungsbedarfs recht dialoglastigen Handlung zumindest auf diese Weise zu etwas Dynamik verhelfen. Bild- und vor allem Lichtgestaltung (diesmal wieder Andrés Marder) gerade der fast mediterran anmutenden Nachtszenen sind allerdings erneut formidabel. Dafür hat Richter bei der Besetzung gespart. Mit Ausnahme von Sinja Dieks als Renés schöne Witwe und Tilo Nest als Justiziar, der als graue Eminenz im Hintergrund die Fäden zieht und Borchert umgehend als gefährlichen Gegenspieler identifiziert, sind die Episodengäste praktisch unbekannt, woran auch dieser Film nichts ändern wird.