Ost-Berlin, 1988, der Schwanengesang der DDR hat längst begonnen, doch zum 40. Jahrestag des Arbeiter- und Bauernstaates wollen die Genossen im Berliner Friedrichstadt-Palast die marode Republik noch mal so richtig hochleben lassen. Doch bis es soweit ist, bis Tänzerin Chris (Svenja Jung) ihr glanzvolles Solo auf der Showbühne bekommt, muss sie erst einen privaten Schock verdauen: Die 27-Jährige hat eine Zwillingsschwester in Westdeutschland. Die heißt Marlene (Svenja Jung), wohnt in Bamberg, ist Fabrikantentochter und sieht ihr zum Verwechseln ähnlich. Die Begegnung der beiden ist reiner Zufall. Verhandlungen mit dem DDR-Außenhandelsministerium im Auftrag des fränkischen Familienunternehmens führten Marlene nach Ost-Berlin. Bei der Einladung in den Friedrichstadt-Palast traut sie ihren Augen nicht. Was ist 1961, im Geburtsjahr der beiden, passiert? Wer sind die Eltern der jungen Frauen? Wurde eines der Kinder adoptiert? In Bamberg geht Marlene auf Konfrontationskurs mit ihrem Vater Roland (Heino Ferch), mit Doris (Inka Friedrich), die nicht ihre leibliche Mutter ist, und ihrem Großvater (Friedrich von Thun). Chris hingegen geht vorsichtiger mit ihren Liebsten um. Auf Fragen zum „Unfall“ des Vaters geben sich ihre Mutter Rosa (Anja Kling) und ihre Großeltern (Hermann Beyer, Ursula Werner) jedoch ziemlich einsilbig.
Foto: ZDF / Julia Terjung
„Der Palast“ – der Titel ist Programm, und er macht deutlich, was von dem ZDF-Dreiteiler zu erwarten ist und was nicht. Wer sich ein historisches Drama verspricht, das sich ernsthaft mit der deutsch-deutschen Geschichte und den beiden nationalen Schicksalsnächten des 13. August 1961 und des 9. November 1989 auseinandersetzt, der kann sich getrost die viereinhalb Stunden (und auch diese Kritik) sparen. Autorin Rodica Doehnert („Das Adlon“ / „Das Sacher“) bedient sich zwar der Geschichte, doch dieses Puzzle aus historischen Versatz-stücken und ostwestdeutschen Mentalitätsstereotypen bildet allenfalls den Zeithorizont für eine Erzählung, die als Familien-Melodram konzipiert ist und die – dramaturgisch clever – sich Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ bedient. Und Familie, das sind nicht nur die Ostberliner Steffens und die Bamberger Wenningers, eine eingeschworene Gemeinschaft im Sinne einer Familie, das ist auch das Ensemble des größten europäischen Revuetheaters. Zu den Höhepunkten des Dreiteilers gehören schließlich die farbenprächtigen Show-Auftritte auf der Originalbühne des Friedichstadt-Palasts. Die visuell veredelte Seifenoper des Hollywood-erprobten Uli Edel („Der Club der singenden Metzger“) ist politisch harmlos, leicht und unterhaltsam. Die Geschichten kommen trotz Augenzwinkern der tanzenden Heldin im Schlussbild ohne komische Momente aus. Selbst die Rollentausche sorgen eher für ein moderates Mitfiebern – und für die Erkenntnis, dass das Ost-West-Spiel, bei dem Chris mit Marlenes Pass die Grenze in Richtung Westen passiert, nicht auf Dauer gutgehen kann.
Foto: ZDF / Julia Terjung
Aber es sind nicht nur die Szenen im sogenannten „Tränenpalast“, wie die Ausreisehalle des Grenzübergangs an der Friedrichstraße im Berliner Volksmund hieß, die für eine gewisse Anspannung auch beim Zuschauer sorgen; die Szenen, in denen Marlene ihrer unbekannten Mutter und Chris ihrem unbekannten Vater das erste Mal begegnen, besitzen ebenfalls ein großes Mitfühlpotenzial, da ja in jedem dieser Situationen die Möglichkeit besteht, entdeckt zu werden. Marlene meistert ihren Rollentausch zwar unter Tränen, insgesamt aber etwas souveräner als Christiane, die gleich am ersten Abend von der Frau des Hauses entlarvt wird. Zum Glück, da eine DDR-Delegation bei den Wenningers zu Gast ist und es so noch verhindert werden kann, dass Chris ins offene Messer läuft, zumal IT-Expertin Marlene mit einem der Anwesenden verhandelt hatte und mit ihm in jener schicksalhaften Show gewesen war. Den zweiten Rollentausch unternehmen die Zwillinge, weil Chris ihren besten Freund wiedersehen will: Denn der Ausreiseantrag von Georg (August Wittgenstein), eingestuft als „feindlich negative Person“, wurde just für den Tag genehmigt, als Chris Marlene spielen musste. In West-Berlin wird aus der jahrelangen Freundschaft Liebe, eine Liebe ohne Zukunft. Auch Marlenes Liebesfindung verläuft nicht unproblematisch. Bei ihr und Alexander (Hannes Wegener), dem Ex von Chris‘ und Vater deren Tochter Lilia (Theodora Wetzlaff), funkt es sofort. Aber kann sie sich sicher sein, dass er sie und nicht ihre Schwester meint?
Foto: ZDF / Julia Terjung
Svenja Jung über die Herausforderungen ihrer Doppelrolle in „Der Palast“:
„Für Chris habe ich drei Monate lang fast täglich trainiert, um glaubhaft eine Tänzerin darzustellen. Ich habe in meinem Leben viel getanzt, aber noch nie Revue, das musste ich mir erarbeiten. Dann ging es vor allem um die Bewegungsqualitäten und die Stimmen der beiden Figuren. Marlenes Stimme sollte etwas tiefer und harscher sein, Chris’ Stimme höher und wärmer. Auch die Kopfhaltung, die Art und Weise sich auszudrücken, der Sprachduktus waren für mich im Findungsprozess der Figuren sehr wichtig. Wo Marlene eher auf Konfrontation geht, weicht Chris aus. Wo mehr Antennen für Situationen gefragt sind, reagiert Chris hingegen wesentlich sensibler als Marlene. Chris spricht auf Augenhöhe und Marlene manchmal etwas von oben herab. Auch die Rolle der Frau in Ost- und Westdeutschland der 80er hat mich sehr interessiert. Chris strahlt für mich eine selbstverständliche Weiblichkeit aus, wohingegen Marlene eher zurückhaltend und reserviert ist, was dieses Thema angeht. Optisch unterscheiden die beiden sich durch Haarlänge, Brille und ihren Kleidungsstil. Chris tritt eher in wärmeren Farben, Mustern und verschiedensten Stoffen und körperbetont auf, Marlene trägt meist blau oder grün, keine Muster und hat nicht ganz so einen verspielten Kleiderschrank wie ihre Zwillingsschwester.“
Foto: ZDF / Julia Terjung
Der Handlungsverlauf stellt keine großen Ansprüche an die Zuschauer*innen. In welche Richtung sich das Liebeskarussell bei Chris, Marlene, Georg und Alexander drehen wird, ist nicht nur für „Herzkino“-Kenner rasch abzusehen. Die Zwillingsgeschichte ist auch kein Hexenwerk und doch wird sie von Autorin Doehnert für den, der das Ganze nicht sofort versteht, gleich mal moralisch bewertet: „Wenn das wahr ist, dann müssen uns unsere Eltern ein Leben lang belogen haben.“ Und der großväterliche Patriarch aus Bayern orakelt: „nicht, dass die alte Geschichte wieder hochkommt.“ Der Alte sagt’s und in der folgenden Sequenz geht es zurück in „diese alte Geschichte“. Rückblenden nach Altväter Sitte, fürs Genre und für die Jahre 1989 und 1961 nicht ganz unpassend. Ansonsten sorgen immer wieder Zufälle dafür, dass die Handlung ihren vorbestimmten Weg gehen kann. Dass sich Christiane den Fuß verstaucht, bringt sie im Konkurrenzkampf mit der erst 19jährigen Bettina Wilke (Luise Befort) zwar ins Hintertreffen, dafür hat sie nun aber Zeit, ihre Biografie zu recherchieren – wenn auch zunächst erfolglos. Dass dann auch noch ihre Mutter mit einem Magengeschwür ins Krankenhaus eingeliefert wird, kann man wohlwollend als retardierendes Moment sehen, das die Spannung aufschiebt und damit erhöht, man kann es aber auch als eine Methode erkennen, künstlich die Zeit zu dehnen, um aus der Geschichte einen Dreiteiler zu machen. Wie bereits angedeutet, ist es auch vollkommen klar, dass der lange Arm der Stasi bis nach West-Berlin reicht und es beide Frauen noch mit der Härte des DDR-Staats zu tun bekommen werden. Abzusehen ist auch, dass die Steffens und Wenningers mit dem Näherrücken des Mauerfalls ihr Happy End bekommen werden, während für einige Nebenfiguren, zu denen der Zuschauer keine sonderliche Nähe aufgebaut hat, die Zeit der Enttäuschungen beginnen wird.
Wer dieser Art (n)ostalgischen Fernsehens gar nichts abgewinnen kann, dem wird eine „Palast“-Revolte nicht schwerfallen. Wer sich allerdings dem gekonnt gemachten Trivialen hinzugeben bereit ist, wer Fern-Sehen nicht nur als Kopfarbeit sondern auch als Bauchlust versteht, als eine angenehm ziellose und emotional entlastende Form der Wahrnehmung, der könnte Spaß haben an diesem ahistorischen Bilderbogen, der „Doppelte-Lottchen“-Variation, die in Sachen Identifikation, Spannungsdramaturgie & Tanz bestens funktioniert. Die Eltern-Figuren loten die Randpositionen aus: Anja Kling spielt die Mutter, der man das Kind genommen hat, wie man es von ihr erwartet und schon oft gesehen hat; Heino Ferch, dessen Vater sich 1989 noch gebiert wie in den frühen Sechzigern, spielt seine autoritäre Figur anfangs laut und arg plakativ. Während man als Zuschauer*in mit ihnen nicht sonderlich warm wird, findet sich im Zentrum viel Raum für die zwei sympathischen jungen Frauen: Svenja Jung ist gefühlt in jeder Einstellung zu sehen, bisweilen sogar doppelt. Sie trägt den Film nicht bloß drei Abende lang, sie ist sein Atem, sein Herz, sein Gesicht – und wenn sie nicht gerade ein Solo gibt, so sticht sie noch als ein Teil aus dem tanzenden Ornament der Masse heraus. Ob und inwieweit es diese unglaubliche, unerhörte bis unglaubwürdige Geschichte dieser Zwillinge ist, die fesselt, oder ob es die psychophysische Omnipräsenz dieser gutaussehenden, liebenswerten jungen Frau mit den zwei Gesichtern ist, der man sich auch als kritischer Zuschauer nur schwer zu erwehren weiß, ist kaum zu beantworten. Es gibt einfach Filme, da versagen die Argumente, da setzt sich das (Wohl-) Gefühl durch. (Text-Stand: 9.12.2021)