Eine Frau mit gutem Riecher. „Fryderyks Erbe“
Erst gleitet die Kamera übers Wasser, dann hebt sich der Blick und zeigt wahlweise das Ufer oder den Horizont: Diese Art der Bildgestaltung ist mittlerweile eine der abgenutztesten Einstellungen, um einen Film zu beginnen. Zum Glück bleibt die Eröffnung das einzige bildsprachliche Klischee des ganz vorzüglich fotografierten ersten „Masuren-Krimis“, mit dem die ARD-Degeto zum zweiten Mal im Rahmen ihres Krimitermins am Donnerstag Richtung Osten reist. Die „Prag-Krimis“ (2018) mit Roeland Wiesnekker als Gastkommissar in der tschechischen Hauptstadt waren zwar sehenswert, sind aber nicht fortgesetzt worden. Während diese beiden Filme die „Goldene Stadt“ feierten, hat Regisseur Anno Saul offenbar dafür gesorgt, dass sich sein Kameramann Martin L. Ludwig in die masurische Landschaft verliebt; die Aufnahmen der Gegend im Morgennebel sind ein bildgewordenes Gedicht. Die Geschichte ist allerdings auch ziemlich gut, zumal das Drehbuch nicht mit der Tür ins Haus fällt, sondern die biografischen Details der Hauptfigur erst nach und nach preisgibt.
Bewertung im Detail: „Fryderyks Erbe“ hat sich fette 4,5 Sterne verdient, und „Fangschuss“ ist gut für knackige 4 Sterne.
„Fryderyks Erbe“ beginnt mit einem Prolog: Ein Mann ertrinkt in einem See. Später wird es heißen, er habe die Alzheimer-Erkrankung seiner geliebten Frau Marta nicht verkraftet. Seine Leiche wird zwar nicht gefunden, aber er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Nach dem Kameraflug übers Wasser führt der Film seine Heldin ein: Fryderyk Jankowskys Nichte Viktoria Wex (Claudia Eisinger) kehrt aus Berlin in ihre alte Heimat inmitten der Masurischen Seenplatte zurück, um die Formalitäten zu erledigen. Schon ihre erste Szene zeigt, dass die Frau gern für sich ist: Sie hat das komplette Zugabteil reserviert. Als sie im Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, eine Leiche entdeckt, steckt sie mitten in einem Mordfall; davon ist sie zumindest überzeugt. Nach Ansicht von Doktor Baronowski (Krzysztof Leszczynski), Hausarzt ihrer Eltern und bester Freund von Fryderyk, handelt es sich dagegen eindeutig um einen Unfall: Der Tote war Diabetiker, hat sich sein Insulin versehentlich in eine Vene gespritzt und ist infolge des anschließenden Schocks die Kellertreppe runtergestürzt. Viktoria glaubt das nicht. Sie ist Kriminaltechnikerin mit einem scharfen Blick für Details und einer untrüglichen Spürnase: Dass sie einen Einbrecher nur von hinten gesehen hat, macht gar nichts, denn sie hat seinen Geruch gespeichert. Sie ist auch sonst ein bisschen speziell, was den Umgang mit ihr nicht immer leicht macht, wie Leon Pawlak (Sebastian Hülk) bald erkennen muss. Der Kleinstadtpolizist ist der nächste Nachbar der Jankowskys und findet die Kollegin ziemlich sympathisch, selbst wenn sie ihn bei der ersten Begegnung, als er in Fryderyks Haus nach dem Rechten sehen wollte, kurzerhand überrumpelt und entwaffnet hat.
Der Kriminalfall an sich ist nicht weiter ungewöhnlich: Der Tote war ein Investor, der in dem Ort zur Freude der einen und zum Ärger der anderen eine pompöse Hotel- und Golfanlage errichten wollte; das Anwesen der Jankowskys fehlte ihm noch in seiner Grundstücksammlung, weil es den Zugang zum See blockiert hätte. Dieses Handlungsmuster taucht in Provinzkrimis immer wieder auf, von den Heimatdramen ganz zu schweigen. Was „Fryderyks Erbe“ sehenswert macht, ist vor allem die äußerst sorgfältig gestaltete Verpackung, zumal sich die Geschichte schließlich in eine gänzlich unerwartete Richtung entwickelt. Reizvoll sind auch die Konstellation der handelnden Personen sowie deren Besetzung. Claudia Eisinger ist jederzeit glaubwürdig als verwitwete Wissenschaftlerin, die auf ihrem Fachgebiet zwar eine Koryphäe ist, im Umgang mit anderen aber wenig Wert auf Konventionen legt. Sebastian Hülk, sonst oft gern als Schurke besetzt, darf hier endlich mal eine Sympathiefigur verkörpern. Außerdem mischt noch Pawlaks geschiedene Frau mit: Zofia (Karolina Lodyga) ist Kriminalkommissarin aus der nächstgrößeren Stadt und mag es gar nicht, dass Viktoria ihr ins Handwerk pfuscht. Das Ex-Paar hat eine Tochter, Leon hat ihretwegen den Job bei der Kripo aufgegeben. Viktoria kann mit Kindern zwar nichts anfangen, weil sie im Gegensatz zu Molekülen unberechenbar sind, aber das hält die naseweise und etwas distanzlose Emilia nicht davon ab, ihr immer wieder auf die Pelle zu rücken; Saul, erfahrener Regisseur diverser und zumeist sehenswerter Beiträge zu Krimireihen wie „Nord Nord Mord“, „München Mord“, „Neben der Spur“ oder „Der Kommissar und das Meer“, hat nicht nur das erwachsene Ensemble, sondern auch die junge Matilda Jork ausgezeichnet geführt.
Die meisten Mitwirkenden sind Polen oder haben polnische Wurzeln. Das sorgt einerseits für große Authentizität, hat aber andererseits wie bei vielen Auslandskrimis von ARD und ZDF ein seltsames Sprachengemisch zur Folge, weil die einen fließend deutsch sprechen, die anderen einen starken Akzent haben und eine dritte Gruppe synchronisiert worden ist. Die Arbeit der verschiedenen Gewerke ist dagegen wie aus einem Guss. Ähnlich viel Anerkennung wie der vorzüglichen Bildgestaltung gebührt dem Szenenbild (Fryderyk Swierczynski); gerade das Haus der Jankowskys steckt voller kleiner Überraschungen, die Saul aber nie aufdringlich in den Vordergrund rückt. Diese Beiläufigkeit prägt auch den Erzählstil. Anfangs stellen sich viele Fragen, weil sich das nach einer Vorlage von Markus B. Altmeyer entstandene Drehbuch von Ulli Stephan über weite Strecken auf Andeutungen beschränkt: hier eine SMS von Viktorias Chefin, die dringend psychologischen Beistand empfiehlt, dort ein verstörender Moment, als sich eine vermeintliche Leiche im Wasser als Treibgut entpuppt. Erst eine Internet-Recherche Pawlaks löst dieses Rätsel; dass Hülk nicht laut vorlesen muss, was er auf dem Bildschirm sieht, ist ein weiterer Pluspunkt. Von herausragender Qualität ist auch die Musik (Philipp Schaeper, Christopher Colaço, Mark Pinhasov), die den Film zumindest akustisch wie großes Kino wirken lässt. Dank der Bilder, in denen sich auch dank der erdigen Farben in Kostüm und Ausstattung der Gemütszustand der Heldin widerspiegelt, ist der erste „Masuren-Krimi“ immerhin ziemlich gutes Fernsehen.
SMS aus dem Jenseits. „Fangschuss“
Der zweite Film ist fast zwangsläufig nicht mehr ganz so fesselnd, weil die Hauptfigur enträtselt ist. Es gibt zwar immer noch einige offene Fragen, an denen eine etwaige Fortsetzung anknüpfen könnte, aber zumindest wird klar, warum sich Viktoria innerlich derart konsequent von der Welt zurückgezogen hat. Der Reiz von „Fangschuss“ muss daher größtenteils aus der kriminalistischen Ebene resultieren, und die bewegt sich auf solidem Donnerstagskrimi-Niveau. Immerhin ist die Beteiligung der Berliner Kriminaltechnikerin plausibel eingefädelt: Leon will sie gerade zum Bahnhof bringen, als er vom Wildhüter per SMS darüber informiert wird, dass Wilderer ein Wisent getötet haben. Das Tier ist in ein Fangeisen geraten, der Wildhüter hat es offenbar von seinem Leid erlöst, ist kurz drauf allerdings seinerseits erschossen worden. Viktoria braucht nicht lange, um zu erkennen, dass er die SMS unmöglich selbst geschrieben haben kann: Er ist schon vor Stunden gestorben. Da ihr Zug ohnehin längst weg ist, verschiebt sie ihre Abreise kurzerhand, um Leon bei den Ermittlungen zu helfen, und selbst dessen Ex ist dankbar für die Unterstützung.
Handwerklich knüpft der zweite Film nahtlos an die Qualität von „Fryderyks Erbe“ an, zumal das Team hinter der Kamera das gleiche ist; Bildgestaltung und Musik bewegen sich erneut auf hohem Niveau. Die Geschichte muss jedoch – im Gegensatz zum ersten Film – ohne die persönliche Betroffenheit der Hauptfigur auskommen. Abgesehen von der grundsätzlichen Leidenschaft für ihren Beruf und der offenkundigen Freude am Lösen von Rätseln ist die Ermordung des Wilderers für Viktoria ein Fall wie jeder andere. Etwas schlicht ist diesmal auch die Besetzung ausgefallen. Für die vierschrötigen Wilderer zum Beispiel hat Regisseur Anno Saul einheimische Schauspieler ausgewählt, die schon beim ersten Auftritt ein unsichtbares Fähnchen mit der Aufschrift „Schurke“ schwenken. Die Mitwirkung von Alexander Held als Besitzer eines Wildparks, aus dem das getötete Tier stammt, sowie Janina Stopper als Tochter und Wisentzüchterin sorgen zwar für eine gewisse schauspielerische Klasse, aber beide spielen nur Nebenfiguren. Sehenswert ist jedoch nach wie vor Claudia Eisinger, die ihre Rolle facettenreich anlegt und sich offenbar eine sehr stabile Basis für die Figur geschaffen hat; Viktorias Hantieren mit der kriminaltechnischen Ausstattung wirkt ebenso glaubwürdig wie ihr distanzierter Umgang mit den Mitmenschen. Auch der Körpersprache ist anzumerken, dass sich Eisinger (vermutlich gemeinsam mit Saul) Gedanken darüber gemacht hat, wie sich die Frau wohl bewegt, wenn sie sich zum Beispiel in einen Fall verbissen hat. Da sie diesmal einfach nur ihren Job erledigt, kann sich der Film zwischendurch auch kleine Humoresken erlauben: Weil Zofia ihr gesagt hat, sie könne jederzeit ins Labor, halten die Polizisten sie am späten Abend für einen Eindringling und stecken sie in eine Zelle. Und später lässt sie sich noch breitschlagen zu einem Einsatz als „verdeckte Ermittlerin“.
Buch, Regie und Hauptdarstellerin haben sich bei Entwurf und Umsetzung der Figur ohnehin immer wieder mal bei jenen unverkennbaren Verhaltensweisen bedient, mit denen Filme gern Menschen mit Autismus charakterisieren. Viktoria erklärt ihre Abneigung gegen das Händeschütteln zwar mit einer Abneigung gegen Bakterien, reduziert aber beispielsweise auch Sex auf hormonelle Prozesse und lässt sich grundsätzlich keinerlei Gefühlsregung anmerken. Ein romantischer Abend mit Leon am Lagerfeuer wirkt da fast wie ein Prinzipienverstoß. Einzig Leons Tochter Emilia gelingt es erneut, sie zumindest ein bisschen aus der Reserve zu locken, und es wird kein Zufall sein, dass die Zwiegespräche an die Rückblenden mit der kleinen Viktoria und ihrem Onkel erinnern. Diese Bilder hat Kameramann Ludwig in ein verklärendes Licht getaucht, das einen deutlichen Gegensatz zu den dunklen Farbtönen der Gegenwart bildet. Am Ende bietet Zofia der Kriminaltechnikerin einen Job an. Ob Eisinger die Chance bekommt, das Potenzial ihrer Rolle weiter auszuschöpfen, macht die Degeto jedoch davon abhängig, wie gut die ersten beiden Filme beim Publikum ankommen.