Katharina Bruckner ist die erfahrene Kraft auf dem Jugendamt. Eine leidgeprüfte Frau, die – obwohl sie es tagtäglich mit dem Bodensatz der Gesellschaft zu tun bekommt – noch immer ihren Beruf mit großer Leidenschaft ausübt. Zynismus ist ihr fremd. Einer ihrer aktuellen Fälle ist ein verhaltensauffälliger Junge, der extrem ausfallend werden kann und der vor Selbstverletzung nicht zurückschreckt. Die geringe Frustrationsschwelle der übernervösen, ängstlich wirkenden Mutter gibt Bruckner zu denken. Aber liegt hier schon ein Fall von Kindeswohl-Gefährdung vor? Die alleinerziehende Mutter, eine angesehene Architektin, verbittet sich jede Einflussnahme. Katharina Bruckner wird von ihrem Chef zurückgepfiffen. Als der Junge nach einem Zwischenfall nicht mehr zur Schule geht, interpretiert Bruckner die Situation als „Kinderschutzfall“ und kommt mit dem ganz großen Besteck: polizeiliche Amtshilfe mit Inobhutnahme des Jungen. Die Folge: Bruckner wird der Fall entzogen. Schlimmer noch: die Aktion wird mit ihrer eigenen Geschichte psychologisch in Verbindung gebracht. Vor 15 Jahren hat die zweifache Mutter ihr jüngstes Kind verloren.
Foto: BR / Conny Klein
„Der Fall Bruckner“ ist zunächst einmal das Porträt einer Frau, der nichts Menschliches fremd ist. Ihr Sohn war gerade mal sieben Jahre alt, als er starb. Seither gebe es keine Familie mehr, sagt die erwachsene Tochter. Auch Bruckners Ehe hat schon bessere Zeiten gesehen; offenbar trifft sich ihr Mann mit einer jüngeren Frau. Und dann ihre Fälle: die ganze Palette des Familienelends. Sie hat sich einen stoischen Optimismus angeeignet, den Kindern einfühlsam zugewandt, geht sie den Familien helfend zur Hand. Mal verständnisvoll, mal eher schroff – so wie es in den Wald hineinschallt, lässt Bruckner es wieder herausschallen. Ihre Kollegen hält sie weitgehend auf Distanz und ihren Chef in Schach. Auch privat reagiert sie erwachsen. Sie zieht sich zwar zurück von ihrem Mann, aber weniger aus gekränkter Eitelkeit und weniger als Bestrafung seines Seitensprungs. Es ist ein tieferer Schmerz, der in ihr arbeitet, es sind tiefere Verletzungen, die in ihr wohnen. Katharina Bruckner ist eine integere, eine unmodern wirkende Frau, die ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen tut und sich damit immer wieder Anerkennung verdient. Sie hat so gar nichts hat von dem auf Erfolg und Leistung getrimmten neuen Frauenbild, wie es in den Medien und Filmen so gern propagiert wird: Sie ist keine jener taffen, Rhetorik geschulten Frauen, die ihren Taten mit Worten Ausdruck verleihen können. Wird es für sie eng, flüchtet sie lieber, anstatt sich zu stellen.
Corinna Harfouch spielt den Star unter den grauen Beamtenmäusen in ihrer unnachahmlichen Art – nie leicht zugänglich, stets mit feinen Brüchen, eine allzu große (psychologische) Erwartbarkeit unterlaufend. Dabei nutzt sie die Breite des emotionalen Spektrums, die sich für einen eher introvertierten, melancholischen Menschen anbietet. Von freundlich bestimmt über unterkühlt abweisend oder leicht übergriffig, wenn sie vom Kindeswohl und der eigenen Leidenschaft gepackt wird, bis zur völligen Verunsicherung, wenn die funktionale Welt des Controllings und der verordneten Supervisionen sich mit ihrem Verständnis von Moral und höheren Werte nicht mehr vereinbaren lässt. Harfouch macht den Film zum Ereignis. „Der Fall Bruckner“ – nomen est omen – hat so gar nichts von dem, was andere moderne Fernsehfilme häufig auszeichnet. Es dominiert ein klassischer, eher etwas spröder Realismus, der sich eine unprätentiöse Bildsprache zu eigenen macht. Die Großstadt unter einer Dunstglocke, wenig Himmel, ausgewaschene Farben. Das passt zur Hauptfigur, die es nicht mag, wenn um ihre Person Aufhebens gemacht wird. Eine stille Frau, die nach kleinen Ventilen sucht für die oft belastenden Fälle. In der Zigarette liegt die Kraft, in einem Glas Rotwein findet sie Entspannung. Ein klein wenig erinnert die Anlage von Harfouchs Figur an Senta Bergers Rolle im Grimme-Preis-gekrönten Drama „Frau Böhm sagt nein“.
Foto: BR / Erika Hauri
Vor allem weil den Autoren Hans Ullrich Krause und Cooky Ziesche ein so nachhaltiges, von Harfouch so feinsinnig gespieltes Porträt gelingt, gerät dieser von Urs Egger inszenierte realistische Fernsehfilm alter Schule nicht auch gleichzeitig zum Themenfilm alter Schule. „Der Fall Bruckner“ sensibilisiert dabei durchaus für den Themenkomplex „Jugendamt“ und „Kindeswohl(gefährdung)“, wie es in der Amtssprache heißt. Die Fragen, die sich Mitarbeiter der Jugendämter stellen, werden auch im Film gestellt; man hat aber nie Eindruck, als wollten einem die Macher diesbezüglich eine bestimmte Meinung aufdrängen. Eine Haltung hat vor allem die Heldin. Dass ihr privates Schicksal zwar die Psychologie der Figur motiviert, der Tod des eigenen Kindes aber nicht zu einem zweiten Motivstrang vertieft wird, erweist sich als sinnvoll. So entgeht die Geschichte einer psychologischen Überfrachtung, was zu diesem rauen Realismus – im Gegensatz zu einem Film wie „Zappelphilipp“ – nicht gepasst hätte.
Im Schlussteil fragt man sich kurz, was gewesen wäre, wenn Corinna Harfouch den Film nicht so sehr an sich gerissen hätte, wenn die Geschichte weniger stark auf ihre Frau vom Jugendamt fokussiert gewesen wäre. Der Gedanke kommt einem, wenn man Christiane Paul sieht und ihr in einer äußerst intensiven Szene dabei zuschaut, wie die Fassade der taffen Mutter mitleiderregend von den eigenen Tränen weggeschwemmt wird. Was wäre das für ein Film geworden, hätten die Autoren den Kinderschutzfall schneller zur Aufklärung gebracht und dem „Monster“ und der Mutter-Kind-Therapie mehr Filmzeit gegeben? Dieser Perspektiv-Wechsel hätte wohl die Misshandlungsproblematik schärfer akzentuiert, aber dafür den subjektiven Blick beträchtlich verwässert und das Frauenporträt stärker zu einem Themenfilm gemacht. Da ist der Film, so wie er ist, doch die bessere Variante. (Text-Stand: 13.8.2014)