Der Bozen-Krimi – Am Abgrund

Schoras, Oertel, Jürgen Werner, Thorsten Näter. Ein klassischer Mehrteiler-Stoff

Foto: Degeto / Hans-Joachim Pfeiffer
Foto Tilmann P. Gangloff

Der vierte „Bozen-Krimi“ mit Chiara Schoras als deutsche Kommissarin Sonja Schwarz in Südtirol beginnt mit dem sprichwörtlichen Knalleffekt, ist aber nicht zuletzt wegen der unglaubwürdigen Leistungen der Schauspieler allenfalls mittelprächtig gelungen. Außerdem ist die horizontal erzählte Geschichte, in der ein Killer Schwarz’ Kollegen Zanchetti nach dem Leben trachtet, interessanter als der aktuelle Mordfall. Aber das ist noch das kleinste Übel: Buch und Umsetzung sind mehrfach unplausibel, und ausgerechnet der erfahrene Thorsten Näter hat nicht verhindert, dass seine Darsteller ständig zu großem Drama auflaufen.

Seit einigen Jahren starten viele neue ARD-Krimireihen nach dem gleichen Muster: Es gibt eine horizontale Ebene, die sich über mehrere Folgen erstreckt, sowie in jeder Episode einen aktuellen Fall, der am Ende der 90 Minuten gelöst wird. Beim „Polizeiruf“ aus Rostock hat das ausgezeichnet funktioniert, beim „Tatort“ aus Dortmund nicht immer und beim „Tatort“ aus Berlin überhaupt nicht. Auch die ARD-Tochter Degeto hatte mit diesem Erzählschema nicht jedes Mal eine glückliche Hand. Der „Zürich-Krimi“ wurde erst richtig interessant, als es im zweiten Film ausschließlich um das Schicksal der Hauptfigur ging. Bei den drei bisherigen „Bozen-Krimis“ von Jürgen Werner, der auch den „Tatort“ aus Dortmund erfunden hat, war der durchgehende Handlungsstrang ebenfalls ungleich spannender als die jeweils aktuellen Ereignisse: Die deutsche Kommissarin Sonja Schwarz (Chiara Schoras) ist ihrem Mann Thomas (Xaver Hutter) in dessen Südtiroler Heimat gefolgt, wo er als vermeintlicher Mädchenmörder ins Gefängnis kam. Diese Ebene hatte schon aufgrund ihrer Komplexität das Zeug zum Mehrteiler, schließlich ging es um die Mafia und um korrupte Politiker; mit dem schmucken Kollegen Matteo Zanchetti (Tobias Oertel) gab es zudem einen veritablen Nebenbuhler für Thomas. „Am Abgrund“, Fall 4, nimmt die verschiedenen Fäden wieder auf. Der Nebenfall ist erneut nicht mehr als eben dies, und das ist noch das kleinste Übel.

Die (positive) Gegen-Meinung (von TV-Spielfilm):
„Nach einem Drehbuch von Jürgen Werner inszenierten die ‚Tatort‘-Routiniers Thorsten Näter (Regie) und Joachim Hasse (Kamera) stilsicher vor Südtiroler Kulisse den vierten Fall der Reihe: eine düstere Tragödie, die nicht nur der gefürchtete lange Arm der Mafia, sondern auch gottesfürchtige Bergbauern buchstäblich ins Rollen bringt… Zwielichtige Figuren, wuchtige Szenen“

Der Auftakt ist dem erfahrenen Krimi-Regisseur Thorsten Näter jedoch recht gut gelungen, zumal er in einen kleinen Knüller mündet: Ein Scharfschütze schießt auf das Auto von Sonja Schwarz, die Kugel trifft Thomas in den Kopf; im Krankenhaus wird der Polizistin kurz darauf eröffnet, dass ihr Mann klinisch tot ist. Zanchetti wiederum ahnt, dass der Anschlag ihm gegolten hat, denn er war zu einer vermeintlichen Leiche in den Bergen gerufen worden. Tatsächlich entdeckt er an der Stelle, von der aus der Schütze das Auto ins Visier genommen hat, eine aufrecht stehende Patronenhülse: das Erkennungszeichen des Mafiakillers Lorenzo Saffione (Murathan Muslu), der mit Zanchetti noch eine alte Rechnung offen hat. Schwarz, die davon nichts ahnt, ist überzeugt, Hotelbesitzer Keller (Heio von Stetten) und seine Frau (Julia Stemberger) steckten hinter dem Attentat, denn sie hat Kellers Karriere als Kommunal-Politiker beendet und ist zudem drauf und dran, die Pläne des Paars für ein Luxushotel in einem Naturschutzgebiet zu vereiteln. Parallel zu diesen Ereignissen entwickelt sich der in sich abgeschlossene Folgenfall, der mit der linearen Geschichte nichts zu tun hat und deshalb weitgehend bezugslos nebenher plätschert: Ein Mountainbiker ist bei der Bergabfahrt in eine tödliche Falle gerast. Der Verdacht fällt zunächst auf radikale Umweltschützer, aber als die Polizisten Mutter und Schwestern des Mannes aufsuchen, sind Krimihasen rasch im Bilde.

Der Bozen-Krimi – Am AbgrundFoto: Degeto / Hans-Joachim Pfeiffer
Wenigstens ein großartiger Ausblick. Kommissar Sonja Schwarz (Chiara Schoras) versucht Matteo Zanchetti (Tobias Oertel) aus der gefährlichen Situation zu retten.

Der Nebenstrang sieht aus, als wären die Verantwortlichen der Meinung gewesen, dass Gabriel Raab als jüngstes Ensemblemitglied mehr zu tun bekommen sollte. Der Hauptstrang dagegen ist für Zuschauer, die die ersten Filme nicht kennen oder sich nicht mehr erinnern, anfangs kaum zu entschlüsseln, weil man keine Ahnung hat, wer die Menschen sind, von denen sich Schwarz immer wieder in Rage bringen lässt. Das einzige Zugeständnis in dieser Hinsicht: Die Kommissarin schaut sich im Internet als Erinnerungshilfe ein Interview mit dem Ehepaar Keller an, in dem die beiden gewissermaßen zusammenfassen, was bisher geschah.

Das deutlich größere Manko ist jedoch die Führung der Schauspieler, was für einen Regisseur wie Näter sehr ungewöhnlich ist. Selbst die Darbietungen der erfahrenen Mitwirkenden sehen in vielen Szenen angestrengt aus; und das gilt nicht nur für die emotionalen Momente, aus denen jedes Mal ein großes Drama gemacht wird. Sollen die Darsteller Subtexte vermitteln, blicken sie derart vielsagend drein, dass man den Wink vermutlich selbst dann noch mitbekommt, wenn man gar nicht hinschaut. Beim durchgehenden Ensemble ist im Grunde nur Thomas Sarbacher ohne Einschränkung überzeugend, zumal er dank seiner undurchsichtigen Rolle als mutmaßlicher Mafioso auch die interessanteste Figur ist. Faszinierend ist allerdings auch die von Katja Lechthaler verkörperte extrem gottesfürchtige Frau. Der charismatische Murathan Muslu ist ohnehin stets sehenswert, und das Licht (Kamera: Achim Hasse) ist abwechslungsreich, doch einige Details sind recht irritierend: Der Attentäter ist zwar in der Lage, aus großer Entfernung eine Person in einem fahrenden Auto zu treffen, verfehlt aber beim zweiten Mordversuch sowohl Zanchetti wie auch Schwarz, als er in einem Haus wenige Meter gegenüber dem Revier auf der Lauer liegt. In diesem Moment kommt zwar ein bisschen Actionspannung auf, aber solche Szenen hat Näter auch schon ungleich packender umgesetzt, zumal ihm die Musik nur wenig hilft.

Auch das Ende ist nicht unbedingt plausibel und längst nicht so spannend, wie sich Werner das vermutlich vorgestellt hat: Der Killer zwingt Zanchetti, zwei Flaschen Wein zu leeren; dann stellt er ihn gefesselt und mit verbundenen Augen vor einen Abgrund, wo Schwarz ihn schließlich rettet. Dabei fordert sie ihn allerdings nicht einfach auf, sich hinzusetzen, sondern dirigiert ihn von der Klippe weg. Seltsam auch, wie kurz die Wege in den Dolomiten sind. Filme pflegen zwar große Entfernungen mit einem Schnitt zu überwinden, aber in diesem Fall spielt die Zeit eine spezielle Rolle, immerhin schwankt Zanchetti hoch droben in den Bergen vor sich hin. Der Ausblick, von dem er naturgemäß gar nichts hat, ist allerdings toll. Sehr ärgerlich, wenn auch vor allem aus Journalistensicht, ist schließlich die Figur eines Reporters, der Schwarz gleich zu Beginn auf eine bestimmte Spur bringt. Der Mann hat ein derartiges Galgenvogelgesicht, dass ihm der Ganove ins Gesicht geschrieben ist. Später heißt es über ihn, er sei ein „windiger Kandidat“, der sich die Mehrzahl seiner Storys ausdenke. Seltsam auch, dass solche Gestalten stets auf der „Abschussliste“ stehen und deshalb dringend einen Knüller liefern müssen; und selbstredend hat der Typ richtig Dreck am Stecken.

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Reihe

ARD Degeto

Mit Chiara Schoras, Tobias Oertel, Xaver Hutter, Charleen Deetz, Lisa Kreuzer, Gabriel Raab, Hanspeter Müller-Drossaart, Thomas Sarbacher, Julia Stemberger, Heio von Stetten, Floriane Daniel, Katja Lechthaler

Kamera: Achim Hasse

Szenenbild: Jost Brand-Hübner

Schnitt: Julia von Frihling

Musik: Mario Lauer

Produktionsfirma: JoJo Film- und Fernsehproduktion

Drehbuch: Jürgen Werner

Regie: Thorsten Näter

Quote: 4,91 Mio. Zuschauer (15,1% MA); Wh. (2019): 4,50 Mio. (16,3% MA)

EA: 26.01.2017 20:15 Uhr | ARD

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