Ein Mädchen (Emilia Packard), etwa 12 Jahre alt, ist in einer Bauruine in einer heruntergekommenen Gegend von Barcelona gefangen gehalten worden. Sie hatte mehr Glück als zwei andere Mädchen, deren sterblichen Überreste Kommissar Xavi Bonet (Clemens Schick) wenig später am Ort des Martyriums entdeckt. Das Mädchen, das er „Luisa“ nennt, spricht nicht, kann sich nur mit Gesten verständlich machen. Ihren Peiniger hat es offenbar nicht gesehen. Der lockere, unkonventionelle Xavi hat im Gegensatz zu seiner Partnerin Fina Valent (Anne Schäfer), die ohne das Wissen der Kollegen zur Chefin der Abteilung berufen wurde, schnell einen guten Draht zu dem Kind. Ohne Absprache bringt er es – statt in einem Kinderheim – in seiner Wohnung unter und beauftragt den befreundeten Nachbarjungen Pepe (Tristan López), sich tagsüber um die Kleine zu kümmern. Immerhin ein sicheres Versteck für das gefährdete Mädchen. Der Plan, den Täter möglicherweise in der Bauruine zu stellen, wird jäh durch die Medien durchkreuzt. Dann verschwindet ein weiteres Mädchen. Und auch die Sicherheit, in der Xavi Luisa wähnt, erweist sich als trügerisch.
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Zweieinhalb Jahre nach den Auftakt-Episoden „Über Wasser halten“ und „Tod aus der Tiefe“ verströmen die beiden neuen Filme der ARD-Donnerstags-Reihe „Der Barcelona-Krimi“ wieder reichlich südländischen Metropolen-Flair. Der erste, „Entführte Mädchen“, beginnt packend mit einer rasant geschnittenen Szene, in der sich das stumme Mädchen aus einem Schrottkühlschrank befreit und von einem scharfen Wachhund verfolgt und bedroht wird. Danach schlägt die weitere Exposition bis zum Fund der Leichenreste entspanntere Töne an und ermöglicht Einblicke in den Lebensstil der Kommissare: Xavi ist der Lebenshungrige, der Wilde mit einer ausgeprägten sozialen Ader, Fina ist die Tochter aus gutem Hause, kultiviert und deutlich konservativer. Die nächste Aufregung ergibt sich, als eine ungeliebte TV-Moderatorin den beiden in ihre Ermittlungen pfuscht und ein Profiler und Buchautor aus zwei toten Mädchen gleich eine Serie machen möchte. Auch die Kommissare haben ihre Denkmuster: Das Mädchen wurde zwar nicht vergewaltigt, dennoch könnten Kinderhandel oder Pädophilie Motive in dem Fall sein. Und auch wenn Bonet zunächst skeptisch ist: dass alle Opfer Patienten desselben Hautarztes (Thomas Bading) sind, das kann kein Zufall sein.
Bei „Entführte Mädchen“ sticht die besonders Inszenierung ins Auge. Regisseurin Isabell Suba („Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste“) und ihre Gewerke setzen auf monochromes Blau in allen Varianten und Schattierungen – neben Himmel und Meer, neben Autos und Häuserfronten strahlen Polizeiuniformen, T-Shirts, Blousons – einfach so gut wie alles in diesem Film in klaren Blautönen. Und dann diese Augen von Clemens Schick und die betörenden Kamerablicke auf Barcelona bei Nacht. Anders als in den meisten (deutschen) Krimis, die für ihre Geschichten die passende Form suchen, verfahren die Macher beim „Barcelona-Krimi“ umgekehrt. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Regisseurin sich bei dem Sujet „Krimi bei Sonnenschein“ an ihre „‘Miami Vice‘-Besessenheit“ erinnerte. Auch Schick bezeichnet seine Figur als eine „Mischung aus ‚Miami Vice‘-Cop und Hippie“. Doch dieser Xavi Bonet ist kein Kleiderständer mit Föhnfrisur wie Sonny Crockett, kein Schönwetter-Bulle (trotz seines „Take on me“-Aha-Klingeltons aus den hedonistischen Eighties), sondern ein Melancholiker und Romantiker, der an das Gute im Menschen glauben will, auch wenn er sich von Halsabschneidern, Kinderschändern oder Umweltkriminellen umzingelt sieht. Und so ist „Entführte Mädchen“ am Ende noch etwas mehr als ein souverän inszenierter Designer-Krimi. Herzstück der Handlung ist die Beziehung zwischen dem Kommissar und dem Mädchen. Eine „Freundschaft“ zwischen einem Erwachsenen und einem Kind in einem Film: schön, dass das in einer übersexualisierten Gesellschaft noch möglich ist.
Foto: Degeto / Charlotte Jansen
Die zweite Episode, „Blutiger Beton“, rückt die Gentrifizierung Barcelonas ins Zentrum der Handlung – und zeigt Gewinner und Verlierer. Ein Bauunternehmer, der neben dem Sinn fürs Geschäft auch noch ein Herz gehabt haben soll, ist das erste Opfer. Umgehend unter Verdacht steht sein ungeliebter Geschäftspartner Nestor Rodriguez (Michael Rotschopf), ein halbseidener Strippenzieher, auf dessen Gehaltsliste hohe Tiere aus der Politik stehen und der vor Jahren eine leidenschaftliche Affäre mit Fina Valent hatte. Aber auch dem Kollegen läuft ein einst sehr enger Freund wieder über den Weg: der in eine Lebenskrise geratene Ruben (Michael Sideris). Nach einer Straßenschlacht der „Okupa“, die für bezahlbaren Wohnraum kämpft und dabei schon mal gegen das Gesetz verstößt, glaubt er, mehrere Trümpfe in der Hand zu haben: Xavi hat er die Dienstwaffe im Handgemenge abgenommen und Rodriguez, dem Klassenfeind Nummer 1, dessen Notizbuch mit vielen Namen und Daten, die einiges wert sein könnten. Dass sich auch Finas Tochter Maria (Tara Fischer) auf die Seite der gewaltbereiten Protestler geschlagen hat, gefällt der neuen Dienststellenleiterin ganz und gar nicht. Hat ihr neuer Freund Felix (Marcel Gisdol) sie dazu angestiftet? Die beiden sind ein Herz und eine Seele – „für immer“. Doch schlägt das von Felix wirklich links?
„Blutiger Beton“ erzählt eine Geschichte am Puls der Zeit und auf dem realen Hintergrund der katalonischen Gesellschaft. Pflastersteine werfen unter Palmen – die Randale zu Beginn des Films ist stimmig in Szene gesetzt: knallig und physisch, das passt zur Straßenkampf-Wirklichkeit, aber auch zu dieser Reihe, die immer ein gutes Bild abgeben möchte. Da macht selbstredend Anne Schäfer keine Ausnahme – mit Vintage-Sonnenbrille und Flatterblusen steht sie optisch Clemens Schick in nichts nach. Mit der Chefin-Rolle allerdings kann ihre Tochter aus besserem Hause weniger Coolness-Pluspunkte sammeln. Dass ein folgenschwerer Fehler aus der vorhergehenden Episode sie nun mehrfach einholt, ist solide Krimi-Psychologie – mehr allerdings nicht. Diese Art von Psychologie prägt nicht die Charaktere, sondern sie gehorcht einer Erzählung, die menschliches Verhalten in der Handlung aufgehen lässt. Filmästhetisch ist der zweite Film nicht ganz so stylish. Sinn und Sinnlichkeit der Farbgebung fallen nicht so deutlich ins Auge – und diese tendiert zur anderen Seite des Spektrums: Rottöne setzen sich öfter durch. Barcelona leuchtet nachts nun ganz anders – und dann gibt es Icons, die sich signalrot vom Hintergrund abheben: das Hemd des „Verführers“ (Schauspieler Rotschopf!), die Fingernägel der Kommissarin, ein Ring. Da es in „Blutiger Beton“ um (Beziehungs-)Kampf, Liebe und Leidenschaft geht, sind das durchaus passende Accessoires. Und auch das Notizbuch, mehr als ein Hitchcockscher MacGuffin, ist rot. Stärker ins Auge fallen allerdings einige Inszenierungsdetails. Der oben angedeutete Moment, in dem sich die Gute und der „Böse“ nahekommen, gipfelt in einer erotischen Phantasie der Kommissarin. Und in Situationen, die sich Figuren zu Herzen nehmen, lässt sich Regisseurin Isabell Suba immer eine Gestaltungsmöglichkeit (beispielsweise durch eine Montage aus Details: Augen, Mund, Hände, Berührungen) einfallen, die das Ganze emotional nicht ausufern lässt.
Foto: Degeto / Andrea Resmini
Dramaturgisch und konzeptionell (die Form dominiert den Inhalt) hat damit „Der Barcelona-Krimi“ mehr gemeinsam mit US-amerikanischen Ermittler-Serien als mit der Mehrzahl der Krimi-Reihen von ARD und ZDF, die größtenteils ernsthafte Dramen erzählen. Ermittelt wird hier auch weniger systematisch, sondern immer etwas chaotisch. Der Bauch obsiegt über den Kopf, das Gefühl über die Struktur. Man könnte sagen: Die Besetzung ist deutsch, aber die Charaktere besitzen durchaus ein Stück weit spanische Mentalität. Da sind zwei Kommissare, die sich oft nicht im Griff haben, und vor allem ist es die pragmatische Politik der Emotionalisierung, die diese Katalonien-Krimis auszeichnet: Die Frage, wie weit man in der Geschichte gehen kann (zum Beispiel: welche Figur man opfert und welche auf keinen Fall), um den emotionalen Druck auf die Helden und gleichzeitig das Mitgefühl des Zuschauers zu erhöhen, beantwortet der „Barcelona-Krimi“ amerikanisch. Den Eindruck eines Gewalt-und-Gefühlsmissbrauchs hat man bei „Blutiger Beton“ genauso wenig wie in „Entführte Mädchen“ – weil die Auswirkungen auf die Protagonisten deutlich werden, weil diese Krimis stimmig den amerikanischen Serien-Stil markieren, der die Wirkung über eine mögliche Botschaft stellt (Entertainment first), und weil Schick, Schäfer & Co trotz allem diese „Gefühligkeit“ entsprechend psychologisch verkörpern und dem Zuschauer überzeugend nahebringen.