Die Ziele waren hochgesteckt: eine deutsche Sittengeschichte über fünf Jahrzehnte war angekndigt, eine Gesellschaftssatire, eine Studie über ein der deutschen Zeitgeschichte entspringendes Charakterschwein. Verpflichtet wurde die Crème de la Crème der deutschen Fernsehschauspieler und mit Karl Heinz Willschrei („Tatort“, „Wolffs Revier“) verfasste ein Profiautor das Drehbuch. Auf dem Regiestuhl saß immerhin eine Frau für alle Fälle: Ilse Hofmann, die von „Tatort“, „Lindenstraße“ bis „Schulz & Schulz“ so ziemlich alles gemacht hat im deutschen Fernsehen. Es wurde geklotzt, von 80 Schauspielern, 130 Stabmitgliedern, 1400 Komparsen, 70 Chiffon-Abendkleidern und ebenso vielen Perlon-Anzügen war die Rede. 7,5 Millionen Mark sollen die drei 90-Minter gekostet haben, die teuerste Eigenproduktion von Sat 1 bisher. Ein TV-Movie der Superlative wurde von der Sender-PR und der Programm-Presse im Vorfeld kreiert. „Holterdiepolter musste ich die Drehbücher schreiben. Für drei mal 90 Minuten hatte ich gerade mal sieben Wochen Zeit“, wurde Willschrei im Gong zitiert.
So sieht das Drehbuch denn auch aus. Eine Hatz von Schauplatz zu Schauplatz, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Unstrukturiert, ohne narratives Zentrum, ohne innere Spannung: ein Nummern-Drama. Im Schweinsgalopp werden die ersten Hürden der Jugendzeit genommen. „Ich will reich sein und schöne Frauen besitzen“, war sich Stefan Stolze schon als Stöpke sicher. Und für jede Eigenschaft seines späteren Tuns wurde in der Kindheit ein Pendant gefunden: Hausaufgaben gegen Butterstullen – man bekommt eben nichts geschenkt im Leben. „Eine Hand wäscht die andere“, mit dieser simplen Verhaltensregel konnte Stolze sich in den nächsten Jahrzehnten vom Zuhälter und Hehler über den Mitgiftjäger & Immobilien-Hai zum mächtigen Großindustriellen, das Bundesverdientkreuz am Revers, hochgaunern. Auch in der akribisch geplanten Intrige übt sich der 15jährige Stolze. Und mit Fräuleins hat er auch zu tun: eine aus ‚besseren‘ Kreisen spielt ihm übel mit – und deshalb beschließt er: „Frauen muss man schlecht behandeln, um ihnen damit heimzuzahlen, dass wir mehr hinter ihnen her sind, als sie hinter uns.“ Für jedes Verhalten (in spe) hat Willschrei den passenden Merksatz parat. Doch die ausgesprochenen Überzeugungen klingen wie angelernt, werden dem Zuschauer hingeklatscht, ein Charakterbild oder der Horizont der Zeit entschlüsselt sich ihm so nicht.
Vielmehr haspelt man sich durch die gängigen Klischees der 50er Jahre. „Das Schwein“ setzt im ersten Teil allenfalls auf den vordergründigen Reiz der Nostalgie. Optisch reizvoll ist das schon, insbesondere dann, wenn die 60er Jahre anbrechen, wenn Götz George im Pelz und auf Plateau-Sohlen durch Bars und Büros stolziert, oder wenn er im Ami-Schlitten bei Beat-Rhythmen der Zeit und „Schtonk“-Grinsen seine großspurigen Koteletten ausfährt. Diese Bilder leben auch von den komödiantischen Qualitäten Götz Georges. Auch die Geschichte von der Immobilienfirma eines Knast-Kumpels, die sich Stolze unter den Nagel reißt, besitzt Spurenelemente von Spannung: denn Stolze ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Überflieger, seine Gegenspieler können ihm noch das Wasser reichen. Dramatisch ist noch was möglich.
Das verspielt Willschrei gleich zu Beginn des zweiten Teils. Er erfindet ein familiäres Intrigenspiel (Familiendrama in der High-Society – und Papa zückt den Revolver), das dramaturgisch an den Reinecker der späten 60er Jahre erinnert und bei dem von der Inszenierung her eher Durbridges dürftige Kammerspiele Pate gestanden haben: sie ist langatmig, umständlich, bieder. Ilse Hofmann inszeniert durchweg brav nach Vorlage, Szene für Szene. Da wirkt dann selbst die simple Parallelmontage am Ende des Dreiteilers (hier explodiert das Chemiewerk in Bitterfeld, dort erhält Stolze das Bundesverdienstkreuz) geradezu wie eine filmsprachliche Offenbarung. Sonst vergeht die Zeit nur in großen Sprüngen, als Mittel zur unmittelbaren Dynamisierung wird Zeit nicht eingesetzt. Entsprechend unscheinbar bleibt die Kamera. Allein bei den Bildern in Bitterfeld spielt Kameramann Daniel Koppelkamm etwas mit den Filtern. Die müden Augen danken es ihm.
Ab Teil 2 ist Stolze der Gewinner vom Dienst, vom Aufschneider zum Aufsteiger, der von Erfolg zu Erfolg jettet, alle schafft und alles bekommt. Es ist weder eine spannende Geschichte noch eine einnehmende Dramaturgie, die dennoch 7,5 Millionen Zuschauer an die Bildschirme fesselte. Die sagten sich wohl, da muss doch noch was kommen, blieben dran, aus Neugier, aus Trägheit vielleicht. Wenn es etwas Faszinierendes gab an dem Sat-1-Prestigeprojekt, dann war es die Figur Stolzes, dieses liebenswerte Schwein, ein Macher der durchtriebenen Art, ein J.R. des Grunewalds. Von Götz George großartig gespielt, physisch präsent, immer im Zentrum, mal mit mehr, mal leider aber auch mit weniger Augenzwinkern, appelliert er mitunter auch ans Schwein im Zuschauer. Die meisten anderen Schauspieler, allen voran Gudrun Landgrebe und Karl Michael Vogler, chargieren und grimassieren um die Wette, so als ob sie sich bei ihren Miniauftritten beim Zuschauer ins Gedächtnis spielen wollten. Allein Martina Gedeck, Felix von Manteuffel und Arthur Brauss verleihen ihren Figuren ein klein wenig Individualität – ausbrechen aus den Rollen-Korsetts können sie nicht.
Nach drei Abenden „Das Schwein“ hat man das Gefühl, das einen beschleicht nach einem allzu exzessiven Fernsehabend: viel gesehen, viel gehört, schwitzende Gesichter, nackte Frauen, besitzergreifende Männer, Schauspieler, die man besser kennt als den Nachbarn. Doch es bleibt ein Gefühl des Unbefriedigtseins: Mit Werbepausen sechs Stunden „Das Schwein“ – hätte man seine Zeit nicht sinnvoller nutzen können?! Absurd, aber ein vermeintliches Qualitätsprodukt spiegelte einem da die Rezeptionswirklichkeit des Fernsehens der 90er Jahre wider Willen entgegen. Und Emporkömmling Stefan Stolze? Dessen Großspurigkeit übernahm nicht nur der von der Programmzeitschrift TV-Movie gesponsorte Film als einzige erkennbare (Erzähl-)Haltung (man denke nur an den Vorspann). Auch Sat 1 übt sich ja auch mächtig in diesem Neureichen-Habitus.