Wollmütze, Rucksack und Wanderschuhe – Lisa Kuen (Patricia Aulitzky) ist auf dem Weg zum dreiwöchigen Fastenwandern. Am Flughafen entdeckt sie ein Werbeplakat: „Tirol, wo die Welt noch in Ordnung ischt“, heißt es da. Aber so idyllisch dann wohl doch nicht. Denn die Leiche einer jungen Frau mit einem Rucksack voller Steine auf dem Rücken wird aus einem Bergsee im Ötztal gefischt. Das entnimmt Lisa einem Tweet des LKA Tirol. So geht der Flieger ohne die Kommissarin. Dabei hatte sich doch ihr ehrgeiziger Kollege Alex Yüsüf-Demir (Dominik Raneburger), der gern mit Aktentasche zum Tatort stolziert, auf seinen ersten eigenen Fall ohne seine Vorgesetzte gefreut. Doch Lisa stammt aus der Gegend des Tatorts, kennt die Leute dort und hat eine enge Verbindung zum See aus ihrer Kindheit. Die Tote war Prostituierte, hatte in einem Innsbrucker Bordell gearbeitet. Eifersucht könnte ein Motiv sein, ihr Freund Harry (Fabian Schiffkorn) gilt als jähzornig. Es stellt sich heraus, dass das Opfer auf der Suche nach seinen leiblichen Eltern war. Aber warum wusste ihre beste Freundin und Kollegin Tamara (Maresi Riegner) nichts davon? Dann führt eine Spur zu Lisas Vater Franz Kindl (Fritz Egger), den Lisa seit dem Selbstmord ihrer Schwester als Teenager nicht mehr gesehen hat und der jetzt als bekannter Fußballtrainer in seine Heimat zurückgekehrt ist. Um den Fall zu klären, muss die Kommissarin ihre eigene verdrängte Vergangenheit aufarbeiten.
Foto: ZDF / Laab Heinz
Die „Landkrimi“-Reihe des ORF hat sich längst auch hierzulande etabliert. Zunächst die ARD mit den „Steirer“-Krimis, dann das ZDF sind daran beteiligt. Tirol ist nach „Sommernachts-mord“ (2016) zum zweiten Mal Schauplatz. „Das Mädchen aus dem Bergsee“ bietet eine Reihe von eindrucksvollen Debüts; außerdem sind – immer noch eine Seltenheit und deshalb bemerkenswert – Regie, Buch, Kamera, Hauptrolle, Schnitt, Szenenbild und Produktion in weiblicher Hand. Patricia Aulitzky spielt erstmals eine Ermittlerin, Kamerafrau Eva Testor gibt mit diesem Landkrimi ihr Drehbuch-Debüt und „Vorstadtweiber“-Regisseurin Mirjam Unger inszeniert zum ersten Mal für die „Landkrimi“-Reihe. Unger, Testor, Szenenbildnerin Katharina Wöppermann, Produzentin Gabriele Kranzelbinder und die Filmeditorin Niki Mössbock haben zuvor bereits für „Maikäfer flieg“ (2016), der Verfilmung des gleichnamigen Christine-Nöstlinger-Romans, zusammengearbeitet. „Das Mädchen aus dem Bergsee“ ist für den österreichischen Filmpreis „Romy“ in den Kategorien „Bester Fernsehfilm“, „Beste Kamera“ und „Beste Musik“ (Teresa Rotschopf und Patrick Pulsinger) nominiert.
Foto: ZDF / Laab Heinz
Eva Testor, als Kamerafrau mit einem genauen Blick für Figuren und Situationen ausgestattet, schickt die Ermittlerin auf eine spannungs- und wendungsreiche Reise in die eigene Vergangenheit und auf Spuren- und Identitätssuche am Ort ihrer Kindheit – samt düsterer Enthüllungen und unbewältigter Traumata. Zwischen Kapelle, Gastwirtschaft, Haus der Mutter, Bergsee und Bootshaus warten dunkle Familiengeheimnisse. Das hat Sogwirkung, man folgt der einsamen Kämpferin gegen die Welt und die Vergangenheit gerne und neugierig. Mirjam Unger spielt in ihrer Inszenierung geschickt mit dem Kontrast der Schauplätze: hier Innsbruck mit Rotlichtwelt und Fußballstadion, dort die Enge und Abgeschiedenheit des kleinen Dorfes, in dem die Kommissarin aufwuchs. Nichts ist überzeichnet, sowohl Anna Thalbach als Puffmutter als auch Dominik Radeburger als Kollege Alex, ein liebenswerter Pedant mit Seitenscheitel, Aktentasche, Allwetterjacke und Krawatte unter dem Pullover. Ein wenig Leichtigkeit bringt Unger in das eher schwere Thema, wenn beispielsweise das Kommissariat alle Mangotopfenstrudel in Innsbruck aufkauft und probiert, um zu rekonstruieren, wo das Opfer zuletzt war, dann hat das wohldosierten wie wohltuenden Witz.
Patricia Aulitzky, vier Jahre lang Titelheldin der ZDF-Reihe „Lena Lorenz“ und derzeit Hotelchefin und Schwester eines Ermittlers in der Krimireihe „Blind ermittelt“ im Ersten, spielt die emanzipierte und selbstbewusste Tiroler Polizistin Lisa Kuen, die ihr Kollege Alex so charakterisiert: „Du bist komplett obsessiv, ein Workoholic und rennst mit dem Kopf durch die Wand“. Lisa handelt unerschrocken, intuitiv, gerade heraus und eigenwillig. „Die Figur ist richtig sperrig, das passt zu Tirol“, sagt Aulitzky. Und sie spricht Dialekt. Wohltuend, hat man doch in den letzten Jahren im Zweiten bei Produktionen aus dem Alpenraum zu oft darauf geachtet, dass sie nur verständlich rüber kommen und dabei auf die Stärke einer Dialektfärbung verzichtet. Die zeigt sich hier – wenn auch deutlich abgeschwächt zu anderen reinen österreichischen Produktionen. Eine Figur mit Tiroler Biografie, die nicht auf die „sch“-Laute setzt, würde dem Film auch einiges an Identität nehmen. Diese Lisa ist ja nicht nur Ermittlerin, sie gerät auch privat immer tiefer in den Fall, ist emotional gefordert, wenn sie immer mehr mit Lebenslügen konfrontiert wird. Eine starke Rolle für Patricia Aulitzky, weil sie Tiefe hat, weil sie cool und auch mal schwach sein darf. (Text-Stand: 7.5.2021)