Wie der Boxhagener Platz die Braunen und die Roten überlebt hat, so überlebt Oma Otti ihre Ehemänner. Jetzt, 1968, liegt ihr sechster gerade im Sterben. „Dass die Männer auch immer so schnell schlapp machen müssen“, mosert die resolute Alte – und genießt es, dass ihr schon wieder die nächsten Mannsbilder den Hof machen. „Die Männer sind doch alle gleich!“ Der knorrige Alt-Spartakist Karl, den sie auf dem Friedhof trifft, wo sie reichlich damit zu tun hat, die Gräber ihrer Verflossenen zu begießen – der könnte ihr schon gefallen. Dagegen zeigt sie dem Alt-Nazi Fisch-Winkler die kalte Schulter. Als der eines Morgens ermordet in seinem Laden, halb Fischgeschäft, halb Sauf-Eck, gefunden wird, ist das Viertel in heller Aufregung. Insbesondere Ottis Enkel Holger, der es bei seinen ewig streitenden Eltern, dem braven Vopo Klaus-Dieter und der kessen Renate mit West-Drang, schwer aushält, hat viel zu „ermitteln“. Überall hat er seine Augen. Da sieht er auch so einiges, was nicht für ihn bestimmt ist.
Während in West-Berlin die Studenten revoltieren und es in Prag Frühling werden soll, herrscht in Ost-Berlin Friedhofsruhe. Zwischen Königsberger Klopsen und Kittelschürze, zwischen Klub der Volkssolidarität und Kiez-Heimeligkeit geht am Boxhagener Platz das Leben seinen Gang – in erster Linie privat, real existierend sozialistisch zeigt sich dieser Gang nur am Rande. Matti Geschonnecks „Boxhagener Platz“ nach dem Drehbuch und Roman von Torsten Schulz ist ein Beitrag zur Alltagsgeschichte der DDR: ein unaufgeregter, humorvoller, kleiner Film, der etwas Kammerspielhaftes besitzt, was auch damit zusammenhängt, dass er im Studio gedreht wurde. Die 2010 im Kino laufende Tragikomödie ist ein warmherziges Kleine-Leute-Drama, eine Hommage an das alte Berlin, welches sich mehr in den liebevollen Umgangsformen der Kiez-Bewohner widerspiegelt als in der so beliebten Berliner Schnauze. Selbst Gwisdek hält sich zurück. Er und Gudrun Ritter sind die Idealbesetzung für diesen wunderbaren, langsam und sehr genau erzählten Film, der – berücksichtigt man auch, dass er historisch ist – seltsam aus der Zeit gefallen wirkt. Reizvoll an dieser Produktion ist, dass sie sich nicht an das gängige Diktat der Fernsehgenres hält, in denen die DDR vornehmlich fiktional abgehandelt wird: kein Stasi-Drama, kein Mauerfall- oder Flucht-Event-Mehrteiler, keine NVA-Klamotte, kein Ostalgie-Zauber – „Boxhagener Platz“ ist ein Film über ein soziales Biotop, über Menschen, junge wie alte, über politische Traditionslinien, die hier zusammenlaufen, über Haltungen und Erfahrungen, die einem das Leben mitgegeben haben – und es ist ein Film über das Menschliche: beispielsweise die Liebe im Alter oder die Ironie, der wohl beste Schutz gegen die Paradoxien der deutschen Geschichte. (Text-Stand: 6.6.2012)