Midlife-Crisis meets Coming of age: der Geldautomat und das Girlie
Im Leben des zweifachen Familienvaters und erfolgreichen Mittelständlers Frank Sporbert (Marc Ben Puch) lief bisher scheinbar alles nach Plan. Doch die makellose Fassade trügt: Seine Frau Carmen (Lisa Martinek) hat eine Affäre mit dem jungen Fitnesstrainer, für seine Kinder Becky und Max ist er nicht mehr als ein Geldautomat, und auch in der Firma kommen alle prima ohne ihn klar, sie merken nicht einmal, wenn er fehlt. Der Mitvierziger fühlt sich leer und verloren. Das hat er gemeinsam mit der 21-jährigen Sascha Decker (Laura Berlin) von nebenan, Tochter wohlhabender Eltern und frischgebackene Abiturientin, die eines Tages in seinem Haus auftaucht. Und zwar just in dem Moment, als Frank Schluss machen will. Doch die Aktion mit seinem Gewehr geht schief. Auch Sascha hegt Selbstmordgedanken. Blickfang im Keller ihrer abwesenden Eltern ist eine Schlinge mit Henkersknoten.
„Smells Like Teen Spirit“: Zwei Protagonisten wandeln lustvoll am Abgrund
Nach Formaten wie „Im Knast“, „Eichwald, MdB“, „Komm schon!“ und „Tempel“ präsentiert ZDFneo die nächste Eigenproduktion. Sechs Folgen à 30 Minuten umfasst „Blaumacher“. Unterschiedliche Lebensentwürfe, Selbstfindung, Kontrollverlust, Midlife-Krise, Coming-of-Age und Suizid sind die narrativen Motive, die diese Serie mal streift, mal in den Mittelpunkt rückt. Zwei Leidensgenossen, von einer Lebenskrise geschüttelt, die unterschiedlicher nicht sein könnten, finden zueinander. Bernd Lange, für die Drehbücher zu „Requiem“ und „Sturm“ für den Deutschen Filmpreis nominiert, lässt als Headautor, gemeinsam mit Sebastian Heeg und Valentina Brüning, die zwei Protagonisten lustvoll am Abgrund wandeln. Da wird nicht viel erklärt, wieso, weshalb, warum. Sie tun, was sie tun wollen oder müssen. Denn sie befinden sich in einer Phase, in der eine besondere innere emotionale Befindlichkeit herrscht. „Mein Leben ist so flach, wenn ich geradeaus schaue, kann ich meinen eigenen Grabstein sehen“, sagt Frank. Schluss mit der Oberflächlichkeit, Kampf der Spießbürgerlichkeit sagen sich die beiden und machen Musik. Im Keller spielen sie mit Gitarre und Schlagzeug die Hymne der Rebellion: „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana. Eine starke Szene, die auch für den Verlauf der Geschichte Folgen hat: Denn Als Franks Frau Carmen nach Hause kommt und die beiden hört und sieht, hält sie Sascha für Franks Affäre. Obwohl Carmen selbst einen Lover hat, will sie Franks Aufmerksamkeit wieder gewinnen. Doch der hat ja in Sascha jetzt eine Frau, die ihn versteht und ähnlich denkt wie er.
Foto: ZDF / Volker Roloff
Schräge Metaphern: Lieber eine tote Taube auf dem Dach als ein Loch im Kopf
„Blaumacher“ ist überspitzt, schwarzhumorig, schön schräg – und ist vor allem ein Fest für die Sinne. Die Regisseure Pia Strietmann (Folgen 1-3; „Mein Sohn, der Klugscheißer“) und Maurice Hübner (4-6; „Familie Braun“) arbeiten mit unkonventionellen Bildern und haben viele kreative Ideen. Schon die Eröffnungsszene zeigt den ganz eigenen Stil dieser Serie: Frank sitzt auf einem Stuhl, das Gewehr auf sich gerichtet, ein Schuss fällt, er kippt nach hinten, liegt in einer großen roten Lache. Doch es ist kein Blut, es ist Himbeer-Rhabarber-Marmelade. In der Decke klafft ein großes Loch, im Hausdach ebenfalls. Einziges Opfer dieses Suizid-Versuchs ist eine Taube. Lieber eine tote Taube auf dem Dach als ein Loch im Kopf: Ein schöner Einstieg. Sinnig & sinnlich sind auch viele andere Details: Wenn Frank das Gefühl hat, nicht beachtet zu werden, dann nimmt sein Hemd einem Chamäleon gleich das Muster der Tapete an und er ist vor dem Hintergrund kaum zu sehen. Oder wenn er sich unter der Dusche von seinem Desaster reinigen will, dann staubt ihn die Dusche nur noch zusätzlich ein. Volker Bergmeister
Serien sind Teamarbeit – warum nicht auch einmal eine Serien-Kritik!
Volker Bergmeister übernimmt für „Blaumacher“ stärker den deskriptiven Part, Rainer Tittelbach kümmert sich um die Analyse und die Genre-Einordnung.
Melancholie liegt über den Bildern: eine Serie, strukturiert wie ein Rocksong
Die Erzählweise von „Blaumacher“ erinnert mehr ans amerikanische Independent-Kino als an deutsche Serien oder Fernsehfilme. Die Dramaturgie besitzt episodischen Charakter, die beiden lebensmüden Anti-Helden lassen sich treiben, sie sind dem Selbstmord gerade noch einmal entkommen, ein Plan fehlt ihnen logischerweise. Die Geschichte erwächst aus deren Seelenlage, Melancholie legt sich über die Bilder, Struktur und Stimmung ähneln einem Rocksong. Es gibt aber auch eine handlungswillige Hauptfigur: Ehefrau Carmen kämpft unermüdlich um das, was sie Glück nennt, ein bequemes Leben mit Versorger und Lover. Sie übersieht den Selbstmordversuch, missdeutet das Verhalten ihres Mannes, aber sie will unbedingt das Problem lösen: Zunächst probiert sie es mit dem werten Gatten, was erniedrigend scheitert, dann wanzt sie sich an Sascha ran, „das Kind“ von nebenan, welches ihr grausam klar macht, dass sie den Kampf gegen ihr Alter und die sexy Jugend nicht gewinnen kann, und schließlich versucht sie, den Bruder ihres Mannes, der noch Rechnungen aus der Jugend mit Arschloch Frank offen hat, als Verbündeten zu gewinnen. Die Lage ist verfahren, das Ehepaar kommt sich nicht mehr näher, und Therapie macht nur die Tochter (auch das eher wenig erfolgreich). Dem Zuschauer werden in den sechs Folgen einige der Gründe für die Suizidversuche nachgereicht, aber es ergeben sich neue Krisen und Katastrophen. Und so bleiben der Ehemann und die junge Frau hochgradig rückfallgefährdet.
Stimmig & stimmungsvoll auch der Soundtrack: Nina Simone („Good Feeling“), Nirvana („Smells Like Teen Spirit“ / „Come As You Are“ / „The Man Who Sold The World“), Dany Brillant („Le destin t’a donné ta chance“), The Black Keys („She’s Long Gone“), Aretha Franklin („Chain Of Fools“), Elvis Presley („Don’t Be Cruel“), Della Reese („It’s So Nice To Have A Man Around The House“), Jimi Hendrix („The Wind Cries Mary“), Patti Smith („Smells Like Teen Spirit“)
Foto: ZDF / Volker Roloff
Offene Dramaturgie: eine Kinosprache zwischen Ikonografie und Sinnlichkeit
Die Beziehungen drehen sich im Kreis, man redet und lebt aneinander vorbei. Drama, psychologische Analyse und vernünftige Problemlösungen, ein gutes, ehrliches Gespräch, Therapien, Beziehungsarbeit, auf all das, worauf der Fernsehrealismus für gewöhnlich zurückgreift, verzichten die Autoren und Regisseure bei „Blaumacher“ zugunsten einer offenen Dramaturgie und einer Kinosprache, in der sich symbolische Ikonografie und optische Sinnlichkeit gegenseitig befruchten. Nicht die zielgerichtete Logik der Handlung, sondern die Evidenz der Dinge setzt häufig etwas in Gang. Ein Baseballschläger wandert beiläufig von einer Szene in die nächste, um dort etwas anzurichten. Saschas Spruch „Lass dir mal Eier wachsen“ befolgt Frank auf seine Art und serviert Verlorene Eier in Senfsoße. Der Staub, der aus dem Duschkopf kommt und den Helden noch mehr einstaubt, anstatt ihn vom Desaster zu reinigen, setzt eine Assoziationskette in Gang: Mutters Cabrio muss zur Inspektion – spätestens in der Garage versteht man: weg mit der Plane, was für ein Staub! Das Oldtimer-Cabrio erstrahlt dann gleich in doppelter Symbolkraft: Es steht für die Mutter, für ihr Stillhalten in einer Horror-Ehe und es steht für den Fluchtgedanken, nicht in Hollywoodmanier à la „Thelma & Louise“, „Wild at Heart“ oder „Natural Born Killers“, nein, in Deutschland fehlt das Großflächige und so kommen die zwei nicht weit. Aber auch sie geraten mit dem Gesetz in Konflikt: zwei Schläge ins Gesicht der Staatsmacht. Die erste kleine Flucht ist damit beendet. „Blaumacher“ lebt von Bildern und Dingen. Da sind die Gitarren an der Wand, die von einer verschütteten Leidenschaft künden. Da ist die Schlinge im Keller des Mädchens, die wie gemacht ist für das Oval seines schönen Kopfes. Da ist der Pool, der Ästhetik und Freiheit vorgaukelt, in Wahrheit aber ein Symbol des Luxus’ und eines oberfächlichen Lebensstils ist, der die beiden dorthin gebracht hat, wo sie sich jetzt befinden. Und da ist das Gewehr, das durch mehrere Hände geht und eine tragende Nebenrolle spielt.
Eine Serie mit Kult-Potenzial:
Sehr kontraproduktiv, dass das ZDF nur zwei Folgen von „Blaumacher“ in den Vorführraum für Journalisten gestellt hat. Denn die dichte und höchst präzise konstruierte Serie mit einer Fülle externer Anspielungen und interner Verweise entwickelt ihr Potenzial unaufgeregt von Folge zu Folge mehr, ohne dabei auf eine simple Spannungsdramaturgie zu setzen. Wer sich mit zwei Folgen begnügt, kann den Wert der Serie nicht erkennen, kann ihre Besonderheit allenfalls erahnen. Meine Wertung: nach zwei Folgen 4 Sterne, nach vier Folgen 4,5 Sterne und nach allen sechs Folgen mindestens 5 Sterne. Dass eine Folge auch noch beim dritten Sehen Spaß macht, ja sogar gewinnt, spricht für das Kultpotenzial der Serie. tit.
Tragikomische Evidenz: die Sprache der Geschlechter & der Generationen
Für den hohen Unterhaltungswert der Serie sorgt auch die Sprache. Hier ist nichts vordergründig auf Witz und schon gar nicht Pointe gebürstet – und doch tragen die Dialoge immer wieder zur Erheiterung bei. „Blaumacher“ ist eine Tragikomödie – sprich: die Macher loten immer wieder auch die komische Seite der Tragik aus. Dabei verlassen sie nie die interne Kommunikation, verraten also nicht ihre Geschichte (für einen Lacher). Wenn die kluge Sascha dem im Kopf etwas langsameren Nachbarn die Sätze nur so um die Ohren knallt, ist er der Hauptadressat. Der Zuschauer ist der Dritte im Bunde, der sich das alles mit nötiger Distanz anschaut und anhört. Was Fernsehfilme zu selten beherzigen ist die Charakterisierung durch Sprache, fein psychologisch nuanciert und nicht allein von sozialen Klischees bestimmt. Wie häufig in aktuellen Dramödien punktet die Jugend mit ihrer verbalen Schlagfertigkeit. Es sind aber nur die Mädels, die kess-kluge („emanzipatorisch gesehen lebenslange Missionars-Stellung“) bis ultraderbe Sprüche („Du bist ein Arschloch, ich hoffe, du stirbst“) raus hauen. Das passt zu den Biographien: Bei der hochbegabten Sascha ruft Harvard, bei Franks Tochter Becky ist es die Pubertät, die manch boshafte Stilblüte treibt. Nicht auf den Mund gefallen ist auch Carmen – schließlich hat Frank ihr eine Sprachschule eingerichtet. Gegen diese Weibsbilder haben die Männer schlechte Karten: Weichei Frank versucht es immer wieder mit Ruhe und Vernunft, die Sprache scheint nicht sein Medium zu sein, Sohn Max haben die Drogen nicht nur sein Hirn, sondern offenbar auch sein Sprachzentrum vernebelt. Und Camens Lover Thomas Müller („Keine Witze jetzt!“) ist von Grund auf ein eher schlichtes Gemüt, Sprachbegabung inklusive. Auch wenn die Sprache allerhand Kapriolen schlägt, die tragischen Töne trifft sie ebenso gut. „Du schüttest einfach immer Öl ins Feuer, stehst daneben und schaust zu, wie alles in Flammen aufgeht“, kritisiert Frank. Darauf Sascha, die ihre traurige Schicksalsgeschichte noch nicht preisgegeben hat: „Ich brenne, Frank.“ Rainer Tittelbach