37 Sekunden

Emily Cox, Albinus, Kober, Penner, Oberli. Klug, sensibel, realistisch – mitreißend!

Foto: Degeto / Odeon Fiction
Foto Rainer Tittelbach

Eine leidenschaftliche Affäre zwischen einem Star und einem Sternchen geht zu Ende. Bei einem letzten Treffen der beiden, kommt es zu einer brisanten intimen „Situation“. Was für die Frau eine Vergewaltigung ist, hält der Mann allenfalls für ein Missverständnis in der Kommunikation. Anfangs hätte möglicherweise noch eine Entschuldigung genügt, mit der Anzeige der Frau aber kommt ein unaufhaltsamer, öffentlicher Eskalationsprozess in Gang. An dem Fall werden sich in der ARD-Serie „37 Sekunden“ die Geister scheiden; auch die Zuschauer:innen werden möglicherweise hin- und hergerissen sein. Und wie soll ein Gericht ein gerechtes Urteil fällen, über einen so intimen Augenblick einer Beziehung, in der immer noch Liebe im Spiel ist? Dass die Serie von Bettina Oberli (Regie) und Julia Penner & David Sandreuter (Buch) viereinhalb Stunden lang fesselt, ist neben der durchdachten Dramaturgie, dem alltagsnahen Spiel des Top-Ensembles und der zwischentonstarken Inzenierung auch dem narrativ dichten Dreiklang aus Familie, Affäre und Freundschaft zu verdanken: Die Kommunikationsmöglichkeiten sind dadurch sehr viel größer, das Spannungsfeld breiter, die moralischen Zwischentöne vielfältiger. Das Ergebnis: ein absolutes Serien-Highlight!

Das Ende einer Affäre = der Anfang eines komplizierten Beziehungs- & Rechtsstreits
Eine leidenschaftliche Affäre geht zu Ende. Der populäre Rock-Poet Carsten Andersen (Jens Albinus), der kurz vor einer Tournee und dem Release einer neuen CD steht, und die talentierte Nachwuchssängerin Leonie Novak (Paula Kober) hatten wilde gemeinsame Wochen. Die Schmetterlinge flatterten, der Sex war magisch, künstlerische Pläne wurden geschmiedet. Doch längst hat die Realität die verrückten Träume der Verliebten wieder eingeholt. Carsten ist verheiratet und eine Trennung käme für ihn nie wirklich in Frage. Gab ihm Leonie auch die Kraft, wieder kreativ sein zu können, so ist es doch Maren (Marie-Lou Sellem), die ihn erdet und während seiner depressiven Episoden immer wieder auffängt. Und vor allem ist es seine Tochter Clara (Emily Cox), die ihm zur Seite steht; schon als Kind nach dem Tod seiner ersten Frau war sie für ihn da. Sie ist Anwältin geworden und regelt auch heute noch des Vaters inneren und äußeren Angelegenheiten. Wenn er ein Problem hat, steht Clara parat. Dass sie nicht nur liebende Tochter der öffentlichen Person Carsten Andersen ist, sondern auch die beste Freundin von Leonie, macht die Affäre noch komplizierter. Möglicherweise hätte keiner außer Carstens eingeweihter Frau etwas von dieser Liaison auf Zeit erfahren, wären da nicht diese letzten Minuten auf Andersens Geburtstagsfeier.

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Noch rät Clara (Emily Cox) ihrer besten Freundin Leonie (Paula Kober), ihren Ex-Lover anzuzeigen. Noch weiß sie nicht, dass es sich um ihren Vater handelt. Später verrät die Anwältin ihre eigenen ethischen Grundsätze – und auch ihre Freundin.

Wie soll ein Gericht einen so intimen Augenblick einer Beziehung beurteilen?
„Ich will das jetzt nicht“, sagt die junge Frau, als der Star sich ihr am Ende jener Party nähert mit dem Wunsch, ein letztes Mal mit ihr zu schlafen. „Er hat mich dann auch losgelassen“, gibt Leonie später zu Protokoll. „Ich wollte aber nicht, dass er geht und habe dann meine Hand zu ihm ausgestreckt.“ An dieser Geste, die Andersen als ein zu sich Heranziehen am Gürtel beschreibt, scheiden sich in der ARD-Serie „37 Sekunden“ (Regie: Bettina Oberli) die Geister: Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Öffentlichkeit werden diesen Moment unterschiedlich auslegen – und auch die Zuschauer:innen werden verschiedene Meinungen dazu haben. Wer die sechs Mal 45 Minuten dieser herausragenden Serie sieht, blickt tief in die Psyche der Figuren, erfährt viel über die von Lust & Leidenschaft geprägte Affäre, über Ko-Abhängigkeiten, Eskalationsspiralen, die Variationen diffizilen Machtmissbrauchs im „Königshaus“ Andersen, er erkennt die öffentlichen Rituale und gesellschaftlichen Mechanismen, die für die Betroffenen einen hohen Preis haben und sich unschön verselbständigen können, aber am Ende ist es auch wieder diese Interaktion vor und während dieser von männlicher Triebbefriedigung bestimmten 37 Sekunden, auf die der Zuschauer zurückgeworfen wird. Aber wie soll es gehen, dass ein Gericht über einen so intimen Augenblick einer Liebesbeziehung ein Urteil fällt? Bei Carsten und Leonie schwingt in jener Nacht einfach so vieles mit: Liebe, Gefühle, Alkohol, Erinnerungen, wie der Sex zwischen ihnen sonst ablief, „wie ein Spiel, ein Tanz; zwischen uns gab es diesen unberechenbaren, regellosen Raum“, so beschreibt es der Sänger.

„Es ist schwer, in intimen Beziehungen Grenzen zu ziehen, gerade dann, wenn man verliebt ist. Denn Intimität an sich ist komplex, widersprüchlich und fragil. Schlussendlich ist uns allen klar, Sex wird eine Vergewaltigung, wenn er nicht mehr einvernehmlich ist, aber wie kommunizieren wir das im Moment grenzenloser Leidenschaft, wenn wir zudem noch ineinander verliebt sind?“ (Julia Penner, Drehbuchautorin)

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Ein Sinnbild: Clara (Emily Cox) ist Familienmanagerin und Seelentröster ihres Vaters Carsten (Jens Albinus), der unter dem Deckmantel des verletzlichen Künstlers seine Mitmenschen manipuliert. Seine Tochter hat sich eine Menge von ihm abgeguckt.

Eine klare Erzählhaltung und die Kunst eines salomonischen dramaturgischen Urteils
Die Frage, wie man eine solche Situation, die die Frau als Vergewaltigung versteht und die der Mann – wenn überhaupt – für ein Missverständnis in der Kommunikation hält, juristisch bewertet, stellt auch für die Filmerzählung eine große Herausforderung dar: Wie aus dieser verfahrenen Beziehungskiste zweier Ex-Liebender herauskommen, in die sich – durch das Zutun anderer Kräfte – die beiden da hineingeritten haben? Und wie findet die Komplexität dieser im Film dargestellten Intimität (siehe Zitat der Autorin) ihren Ausdruck, ohne dass diese sich vergewaltigt fühlende Frau, die sich im Verlauf der Handlung üblem „Victimblaming“ ausgesetzt sieht, auch vor Gericht zum Opfer und damit zur großen Verliererin dieser Mini-Serie gemacht wird? Autorin Julia Penner („Wir“ / „Meine Freundin Volker“), die diesen Stoff bereits vor der „MeToo“-Debatte mit sich herumtrug, und Ko-Autor David Sandreuter („Tatort – Tödliche Flut“) haben einen klugen, salomonischen Schluss gefunden. Mit dem Blick auf die Vielschichtigkeit der drei Hauptfiguren, auf die emotionalen Zwischentöne und die Ruhemomente, in denen die Hauptfiguren mit sich (und ihrer Musik) alleine sind, lässt sich dieser ideale Ausgang irgendwann erahnen. Das ist kein Manko, sondern spricht für eine klare Erzählhaltung, die sich bei allem cleveren Drehen an der Spannungsschraube nicht mit dem öffentlichen Druck und den Hardlinern im und vorm Gerichtssaal gemein macht. Wohlüberlegt auch die ungewöhnliche Schlussszene: Die Serie wird nicht beendet mit einer der drei Hauptfiguren, sondern mit der Person, die den sichersten moralischen Kompass besitzt. Dass sie dazu noch die jüngste des zehnköpfigen Ensembles ist, lässt ein Stück weit das „Prinzip Hoffnung“ aufschimmern.

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Die Andersens scheinen einen offenen Umgang miteinander zu pflegen, doch bei genauerem Hinsehen – besonders nach jenen 37 Sekunden – kreist alles nur (noch) um den Sonnengott. Da können schon mal Ehefrau Maren (Marie-Lou Sellem), Sohn Jonas (Valentin Mirow) und Claras Mann Bejan (Camill Jammal) übersehen werden.

„Wenn eine Sexszene keinen Subtext hat, sie nichts über die Figuren und ihr Verhältnis erzählt, sondern nur illustriert, dass zwei Menschen miteinander schlafen, muss sie nicht in den Film. In „37 Sekunden gibt es einige Sexszenen, da In-timität als Thema sehr präsent ist.“ (Bettina Oberli, Regisseurin)

Packender als ein Fußball-Krimi: Der Zuschauer ist ständig hin- und hergerissen
Das Geheimnis der Serie liegt in ihrer Ambivalenz. Als Zuschauer verfolgt man beide Seiten, gefühltes Opfer und mutmaßlichen Täter, gleichermaßen interessiert, weil man beide Standpunkte verstehen kann. Man war schließlich Augenzeuge. Weitgehend unvorbelastete Zuschauer werden wahrscheinlich schwanken in ihrer Bewertung. Auch und vor allem, weil bald die anderen den Ton angeben, Clara und Maren Andersen, die mit Hilfe ihres Anwalts (Marc Benjamin) einen rufschädigenden Skandal mit allen Mitteln verhindern wollen, oder die Anwältin, die Leonie strenge Kommunikationsregeln auferlegt, die ihr seelisch nicht guttun. Jede neue Wendung, jede Zuspitzung verändert das Sympathiepunkte-Vergabesystem des Zuschauers. Entscheidend dafür, dass die Serie viereinhalb Stunden lang fesselt, ist auch der narrative Dreiklang aus Familie, Affäre und Freundschaft: Die Kommunikationsmöglichkeiten sind dadurch größer, das Spannungsfeld breiter, die moralischen Zwischentöne vielfältiger. So dominiert in den ersten beiden Folgen die Beziehung zwischen Leonie und Clara. Als die Anwältin noch nicht weiß, dass es sich bei dem Vergewaltiger um ihren eigenen Vater handelt, ermutigt sie die Freundin zur Anzeige; später verrät sie zum Wohle der Familie ihre eigenen Grundsätze. Beim Prozess Star gegen Sternchen in Folge 5 und 6 drückt man verstärkt dem weiblichen David die Daumen. Obwohl die Befragungen und Zeugenaussagen sachlich gehalten sind und das Justiz-Ambiente ausgesprochen nüchtern wirkt – so sorgt doch die dicht erzählte emotionale Vorgeschichte für eine aufgeladene Stimmung im Gerichtssaal wie vor dem Bildschirm. Zwei Mal 45 Minuten plus Nachspielzeit. Zumindest für Fiction-Fans dürfte das mitreißender sein als jeder Fußball-Krimi. (Text-Stand: 10.7.2023)

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Ist es allein das Gefühl, der Schmerz, Sex gegen den eigenen Willen gehabt zu haben, oder schwingen auch Enttäuschung und Liebesleid mit? Als der Fall eskaliert, bleibt keine Zeit für Differenzierung: Es zählen Wut & Selbstermächtigung. Kober, M’Baye

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Serie & Mehrteiler

ARD Degeto

Mit Emily Cox, Jens Albinus, Paula Kober, Marie-Lou Sellem, Valentin Mirow, Camill Jammal, Denise M’Baye, Marc Benjamin, Martin Feifel, Michael Kranz

Kamera: Armin Dierolf

Szenenbild: Cedric Kraus

Kostüm: Tina Keimel-Sorge

Schnitt: Michael Schaerer, Cécile Welter, Hubert Schmelzer

Musik: Paul Eisenach, Jonas Hofer

Soundtrack: The Kinks („Waterloo Sunset“), Daft Punk („Get Lucky“)

Redaktion: Carolin Haasis, Christoph Pellander

Produktionsfirma: Odeon Fiction

Produktion: Britta Meyermann

Drehbuch: Julia Penner, David Sandreuter

Regie: Bettina Oberli

EA: 04.08.2023 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

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