Sophie Ferber ist eine moderne, zielstrebige Frau, die ihre Unabhängigkeit andere Menschen spüren lässt. Ihr Ziel ist die große weite Welt; sie selbst stammt eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Die junge, hyperrationale Frau steckt voller Bindungsängste, lässt sich aber dennoch auf eine Affäre mit einem Nachbarn ein. Während sie langsam lernt, der Zweisamkeit positive Seiten abzugewinnen, gibt ihr die Beziehung zu ihren Eltern immer mehr Rätsel auf. „Ich will nämlich gar nicht nach Venedig“, fauchte ihr Vater sie unlängst an. Reagiert man so auf ein Geburtstagsgeschenk der eigenen Tochter? Und dann ihre Mutter, die unbeholfen versucht, die Situation zu retten. Als sie eines Tages vor Sophies Haustür in München steht, nimmt das Ganze verhängnisvolle Züge an. Die Mutter will ihr etwas sagen. Plötzlich steht Sophies Freund vor ihr: „Max Seefeld, guten Tag.“ Wenige Stunden später ist die Mutter tot.
Foto: Degeto / Bernd Schuller
„Gestern waren wir Fremde“ ist einer jener Filme, die man ganz besonders aus ihrer Verlaufsform heraus begreifen sollte. Abgesehen von der überinszenierten Beiläufigkeit der Eingangsszene am Bahnhof, in der quasi spielerisch vorweggenommen wird, dass es in diesem Film um die Tücken des Zusammenlebens geht, entwickelt sich von den ersten Minuten an eine sehr offen erzählte Geschichte – realistisch sprunghaft, zugleich jedoch dramaturgisch konzentriert und vor allem sehr poetisch montiert. Wie die Autoren Martin Kluger und Maureen Herzfeld den realen Zeitfluss zum Movens ihrer Geschichte machen und wie Matthias Tiefenbacher, Kameramann Martin Farkas und Cutter Dirk Grau sich auf den für Fernsehfilme ungewöhnlichen Erzählrhythmus einlassen – das erinnert stark an die Bildsprache des Kinos. Besonders kunstvoll ist dabei, wie ein Spannungsnetz über diese bunt gemixten Bruchstücke von Leben gespannt wird, ohne dass in den ersten Minuten das fürs Fernsehen so typische Versprechen auf den Ausgang (Paar kriegt sich, Mörder wird gefasst, Held bekommt nicht das, was er sich ersehnt…) ausgegeben wird. Grundsätzlich erzielt diese außergewöhnliche Degeto-Produktion Spannung durch die Spekulationen, denen man sich als Zuschauer hingeben kann. Familiäre Konkurrenzgeschichte? Die Tochter kann es dem Vater nicht recht machen. Oder gar Missbrauchsgeschichte? Der Vater will seine Tochter nicht gehen lassen. Oder trägt die Mutter eine Schuld? Schließlich ist sie es, die „beichten“ will. Und vor allem stellt sich die Frage: Weshalb stößt der Vater seine Tochter plötzlich von sich?
Foto: Degeto / Bernd Schuller
Damit diese fein akzentuierte Dramaturgie des Nichtwissens und Ahnens (insbesondere wenn man es zu rasch erahnt oder die Programmzeitschriften zu viel verraten) eine Stunde lang funktioniert, bedarf es mehr als eines gut austarierten Drehbuchs. „Gestern waren wir Fremde“ wird quasi energetisch aufgeladen von der Poesie des Alltags, den kurzen, dramatischen Spitzen (Tod, Unfall, Schockstarre), von Charakteren, die in ihrer Individualität und doch Verallgemeinerbarkeit als Identifikationsangebot faszinierend sind, und von Schauspielern, die außer Thomas Thieme keine allzu großen Namen tragen, dafür umso großartiger diesem unkonventionell erzählten Fernsehfilm dienen. Nehmen wir Lisa Wagner: Schon in ihrem fulminanten Auftritt als Pflichtverteidigerin im Grimme-Preis-gekrönten BR-„Tatort – Nie wieder frei sein“ ließ sie einen diese besondere Kraft spüren, die ihr weitere Rollen robust agierender Frauen aus den unterschiedlichsten Milieus wie im „Tatort – Es ist böse“ oder im „Polizeiruf 110 – Die Gurkenkönigin“ einbrachte. Allein ihre Sophie Ferber und die Art und Weise, wie Wagner sie verkörpert, macht „Gestern waren wir Fremde“ zu einem erfrischenden Porträt einer jungen Frau, die aus dem modernen Leben mit all seinen Optionen kommt, und bei der man nicht den Eindruck hat, dass sie am Schreibtisch erdacht wurde. Der Abend, als das Paar im Bett landet, ist weder mit aufgesetzt cooler One-Night-Stand-Leidenschaft noch mit kitschiger Liebe-auf-den-ersten-Blick-Romantik inszeniert. Dieser Abend hat bis zum typisch abrupten Aufbruch der Heldin etwas Beiläufiges. Wagners Figur bewegt sich sehr stimmig zwischen Ironie-Zwang und emotionaler Bedürftigkeit.
Konstruktionsarbeit dagegen sind die Schicksalsmomente, die in die Story eingezogen sind. Im Großen bauen die Autoren etwas auf, das in der Lage wäre, das Kleine, das Wunderbare, dieses Films zu zerdrücken. Doch auch hier ist es die Genauigkeit im Detail, die emotionale Nacktheit der Schlüsselszenen, in denen das Geschwür der Vergangenheit aufplatzt, die dem Film kein Zuviel an Melodram geben und einen nicht nach schnöder „Glaubwürdigkeit“ fragen lassen. Wer nicht mit dem Wie des Films mitgeht, sondern sofort nach dem Was (Story? Thema? Konflikt?) fragt – dem entgeht das Beste dieses ungemein aufregenden TV-Films.
Foto: Degeto / Bernd Schuller