Nach einem Einsatz in Uruguay steht für die beiden Düsseldorfer Zielfahnder Hanna Landauer (Ulrike C. Tscharre) und Sven Schröder (Ronald Zehrfeld) eine vermeintlich unspektakuläre Aufgabe innerhalb Deutschlands in Aussicht. Der rumänische Gewaltverbrecher Caramitru (Dragos Bucur) ist aus einem Gefängnis in NRW ausgebrochen – mit Hilfe von JVA-Personal. Der Faktor Mensch ist unberechenbar, jetzt aber wird der Apparat eingeschaltet: polizeiliche Hightech-Überwachung im großen Stil. GPS, Peilsender, Minikameras, Hubschrauber, Rundum-Kommunikation – Dezernatsleiter Karl Vieth (Arved Birnbaum) hat alles im Griff und auch die hohe Politik ist per Konferenzschaltung stets auf Augenhöhe mit den Ermittlern. Kleiner Schönheitsfehler: Der Zugriff geht nach erfolgversprechender Verfolgung an der polnischen Grenze grandios daneben. Der Flüchtige entkommt über die Oder. Jetzt sind wieder die Abhörspezialisten an der Reihe; die finden heraus, dass Caramitru wieder in seiner Heimat ist. Also auf nach Bukarest. Dort aber dürfen Landauer und Schröder weder Waffen tragen, noch in die Ermittlungen eingreifen, und sie sind sich auch nicht sicher, ob die rumänischen Kollegen unter der Leitung von Radu Bara (Radu Binzaru) sie nur hinhalten wollen, gar kein Interesse daran haben, den Rumänen an die Deutschen auszuliefern, oder ob das nur die hiesigen Methoden sind. Der Faktor Mensch mal wieder!
Foto: WDR / Degeto / Kost
„Zielfahnder – Flucht in die Karpaten“ ist ein Ermittler-Road-Movie, das zwei europäische Varianten der Verbrecherjagd gegenüberstellt: Hier ist das LKA-Hightech-Deutschland, in dem technisch nichts unmöglich scheint, dort die geradezu archaische Polizeiarbeit in Rumänien mit Landkarte statt Vidiwall, Pferden statt Heli-Einsatz. Zwei Welten, zwei Kulturen, zwei Geschwindigkeiten – eine Grenzen überschreitende Reise, von einem Kommunikations-Eldorado in eine vorindustrielle Welt. Das ist der spannende Rahmen, in dem sich dieses Man-Hunt-Movie von Dominik Graf bewegt. Autor Rolf Basedow („Im Angesicht des Verbrechens“) schrieb aber auch zwei charismatische Ermittler ins Drehbuch, die sich nicht ständig in den Mittelpunkt spielen, manchmal geradezu an den Rand gedrängt werden vom Treiben der Technik und vom Trubel der rumänischen Folklore. Aber genau das ist deren Stärke. Das sich Zurücknehmen, das Zuschauen, Beobachten von Land und Leuten, das Reflektieren der Situation. Und diese moderne Art des physischen und gleichsam beiläufigen Spiels haben Ulrike C. Tscharre und Ronald Zehrfeld einfach drauf. Dass zumindest einer der beiden LKA-ler am Ende doch etwas polizeiaktiver wird, versteht sich von selbst, nachdem man mehr von ihnen weiß. Aber erst nach und nach wird den Helden die Gelegenheit gegeben, dem Zuschauer Einblicke in die wunden Punkte ihrer Biographien zu gewähren. Hanna Landauer hat sich bei einem Einsatz nicht professionell verhalten, wodurch ihr Partner angeschossen wurde; der Täter war der Mann, der jetzt wieder ihr Zielobjekt ist. Grund genug, es dieses Mal besser zu machen. Ihr Chef und ihr neuer Partner vertrauen ihr. Sven Schröder hat dagegen ein privates Problem: Seine Frau hatte das ewige Warten satt, sie hat Schluss gemacht und lässt sich nun von einem Polizeikollegen aus dem Innendienst trösten. Schröder hat eine kleine Tochter und er befürchtet, auch von ihr vergessen zu werden.
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Der Faktor Mensch ist also nie auszuschalten – auch nicht in der Königsdisziplin der Polizeiarbeit. In „Zielfahnder“ mischt sich die Ebene der Professionals auf wundersame, gelegentlich fast dokumentarisch anmutende Weise mit den Lebensumständen in Rumänien. Und so geht die Reise bald weiter von Bukarest in ein Dorf am Fuße der Karpaten. Dort heiratet die Schwester des Flüchtigen; die Wahrscheinlichkeit, dass dieser dort auftaucht, ist groß. Die Verbrecherjagd dramaturgisch mit einer Hochzeit zu koppeln ist eine exzellente Idee: dieses sinnlich ausgespielte Motiv schafft Atmosphäre, spiegelt authentisch rumänisches Brauchtum und korrespondiert gleichzeitig mit Schröders eigener Erfahrung: Sommer, Sonne, großes Glück, auch so begann seine Ehe… Aber auch für den Thriller ist die gegenseitige Durchdringung von Polizeiarbeit und Privatleben ein Gewinn: Die Spannung wird sehr effektiv herausgezögert durch die lebendigen, genrefernen Bilder. Und die Frage ist nicht nur: Ist das potenzielle Zielobjekt auch das tatsächliche? Sondern auch: Wie wird wohl die Festgemeinde reagieren oder wird gar jemand zu Schaden kommen? Am Ende – und das ist ein schöner Bruch der Erwartungen – kommt alles ganz anders in diesem Dorf: Nachdem die Deutschen sich den hiesigen Bräuchen hingegeben haben, sprich: abgefüllt wurden (aus Berechnung? aus Gastfreundschaft?), werden sie – eine Anekdote am Rande – für die Bewohner fast noch zu Helden. Dann geht die unterbrochene Jagd in Richtung Höhepunkt weiter. Der Berg ruft.
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Rumänien bleibt undurchschaubar. Basedow, Graf und sein Kameramann Alexander Fischerkoesen nähern sich Land und Leuten von außen, mit einem ähnlichen Blick, mit dem auch die beiden Hauptfiguren dem Land begegnen. So wird der Ostblock nicht auf die üblichen Filmklischees reduziert. Wenn Klischees ins Spiel kommen, dann durch die Augen der Ermittler: als die vermeintliche Bestätigung von Vorurteilen. Aber auch die geben sich zunehmend offen und kommen irgendwann zu der Überzeugung: Rumänien ist anders. Wie anders? Ob durch und durch käuflich und korrupt, emotional und warmherzig, traditionsbewusst und familientreu oder nur voller alltags- und europapolitischer Widersprüche – die Rumänen geben keine klaren Antworten. Und Dominik Graf & Co maßen sich das erst recht nicht an. „Magisches Rumänien“, heißt im Film immer wieder. Als eine „fremde Welt“ im Rahmen einer fiktionalen Erzählung funktioniert das ungemein gut – und einige Wahrheiten über das Selbstverständnis werden ja auch intelligent und augenzwinkernd („Verhandlungen sollten rauchfrei und rauschfrei geführt werden“) eingeschoben. Aber das Land wird in diesem Film nicht vereinnahmt vom „kolonialen deutschen Fernsehblick“, wie Christian Buß sehr treffend in seiner Kritik zum Film anmerkte, und wird nicht in die übliche Arme-Länder-Tristesse getaucht. Rolf Basedow bereiste vorab das Land. „Das war eine Reise, bei der ich mich habe treiben lassen. Rumänien ist so voller surrealer Momente, da musste man nur schauen, zuhören, aufschreiben“, so der preisgekrönte Autor. Vieles davon ließ er in Bilder, in Momentaufnahmen, in Stimmungen und originelle Statements einfließen.
Unverkennbar handelt es sich bei „Zielfahnder – Flucht in die Karpaten“ um einen Dominik-Graf-Film. Das „Milieu“, egal, ob rumänisches Landleben oder halbseidene Neureichenkultur, besitzt ebenso viel physische Vitalität wie die Hauptfiguren. Die zahlreichen Club-Szenen erinnern an „Im Angesicht des Verbrechens“ oder „Hotte im Paradies“ – es flackert und flimmert, wummert und dröhnt; da können die Zuschauer ähnlich wie die Ermittler schon mal die Orientierung verlieren. Die Orte, an denen sich die Deutschen bewegen, wirken aber nur selten wie schmückendes Beiwerk, immer sind sie zumindest gut als Sinnesreize. Überhaupt ist das Visuelle zumeist der Taktgeber – in der ersten Hälfte des Films für einen rastlosen, unruhigen, aber nie unmotiviert hektischen Erzählfluss und in der zweiten für die Entschleunigung, die der rumänische Alltag mit sich bringt und die sich auch in der Filmsprache niederschlägt. Um immer mittendrin zu sein, wird viel mit Handkamera gefilmt; insbesondere in den Szenen in den Clubs, auf den Straßen und in den engen Gassen in Bukarest. Das sieht nach einem unkonventionellen Dreh aus ohne Absperrungen und ohne das übliche Heer von Statisten. Das Leben auf der Straße wird einfach mitgenommen, und damit kein Passant in die Kamera schaut, wird immer wieder schnell geschnitten. So jedenfalls wirken die Bilder. Im weiteren Verlauf wird die Montage zwar deutlich ruhiger, sie bleibt dennoch das Herzstück für den Flow des Films. Klassisch lineares Erzählen gibt es bei Dominik Graf schon lange nicht mehr. Auch in „Zielfahnder“ werden Bild- und Tonebene häufig raumzeitlich entkoppelt. Ein Satz genügt – und schon springt das Bild durch die Zeit. Beliebiges, für die Handlung wenig Erhellendes wird weggeschnitten. So bleibt Zeit fürs Wesentliche: die Beziehungen, Land und Leute, aber auch das Spiel mit der Zeit, der Wechsel zwischen Be- und Entschleunigung. Ob man das, wie bei der Premiere in München geschehen, gleich als „entfesseltes Fernsehen“ bezeichnen muss, sei dahingestellt, auf jeden Fall aber ist Grafs „Zielfahnder“-Einstand ein hoch dynamisches, sinnliches und gleichzeitig physisch realistisches Stück Fernsehen. Bitte mehr davon!