Sechs Menschen, eine schicksalhafte Winternacht und ein toter junger Mann
Ein Junggesellenabschied endet damit, dass Mike (Anton Spieker) und sein Jugendschwarm Valerie (Amanda da Gloria), die sich nach längerer Zeit in ihrem Heimatort wiedersehen, miteinander im Bett landen. Zeitgleich machen sich Sylvie Vollert (Laura de Boer) und ihr Mann Maxim (Franz Pätzold), von seinen Eltern kommend, auf den Heimweg. Endlich nach Hause von der feuchtfröhlichen Party möchte auch Finn, Mikes 17jähriger Bruder. Es ist Winter. Es ist kalt. Schnee liegt in der Luft. Finn ist betrunken, und auch Maxim Vollert ist nicht ganz nüchtern. Minuten später kollidiert sein Wagen auf der Landstraße mit dem jungen Mann, der sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte. Anstatt den Verletzten, der noch bei Bewusstsein ist und augenscheinlich keine äußeren Verletzungen aufweist, in ein Krankenhaus zu bringen, setzen die Vollerts ihn in einer Bushaltestelle ab. Am Morgen ist Finn tot, erfroren, wie es scheint, doch später stellen die Ärzte fest, dass er an inneren Blutungen gestorben ist. Mike fühlt sich schuldig. Er hatte die Verantwortung für seinen kleinen Bruder. Außerdem hat Finn Mike in der Nacht noch angerufen; der aber hat den Anruf bewusst ignoriert. In tiefer Trauer versunken sind auch die Eltern (Ulrike Kriener & Bernhard Schütz). Und auch Sylvie kann – anders als ihr Ehemann – nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Jeder fühlt sich auf eine sehr spezielle Weise mitschuldig am Tod des Jungen
„Winterherz – Tod in einer kalten Nacht“ ist ein Schuld-und-Sühne-Drama im alltagsnahen Gewand einer klassischen Tragödie. Der Tod eines jungen Mannes hinterlässt ein halbes Dutzend beschädigter Menschen. Jeder fühlt sich mehr oder weniger mitschuldig an dem Unglück, bei dem die Ereignisse schicksalhaft ineinandergreifen. Der Mann im Staatsdienst hat nur seine Karriere im Blick, der Bruder vergisst vor lauter sexueller Begierde sein Versprechen gegenüber seiner Eltern, auf den minderjährigen Bruder aufzupassen. Aber auch Mutter und Vater fühlen sich schlecht: Hätten sie ihrem Jungen nicht erlaubt, auf die ausgelassene Erwachsenenparty zu gehen, würde dieser noch leben. Ganz besonders mitgenommen von dem Unglück ist die Beifahrerin des Unfallwagens. Hätte sie sich doch durchgesetzt und nicht wie immer ihrem dominanten Ehemann nachgegeben. Das Opfer trägt natürlich auch eine Mitschuld – hatte ihm doch sein Bruder Geld für ein Taxi gegeben; und dass der 17-Jährige so volltrunken war liegt in seiner eigenen Verantwortung. Auch der Bruder und der Autofahrer hatten ein Gläschen zu viel. Selbst Valerie, die Frau, mit der Mike jene Nacht verbrachte, kann sich nicht frei machen von Selbstvorwürfen; besonders belastet es sie, dass Mike sie, das Objekt seines Begehrens, für den Tod des Bruders indirekt verantwortlich macht. „All diese Dinge – Karrieresucht, Alkoholkonsum, Begierde – wären für gewöhnlich eher unbeachtete Lappalien, würden sie nicht vom tragischen Unglück gespiegelt“, bringt Regisseur Johannes Fabrick das dramatische Ausgangsszenario auf den Punkt.
„Der Unfall ist wie eine Lupe, unter der plötzlich alle Facetten der Schuld sichtbar werden. Und darin können wir auch die Allgemeingültigkeit des Stoffes erkennen: Wir leben mit unglaublich vielen Unterlassungssünden, Unkorrektheiten, dem ein oder anderen Bequemlichkeitsschwindel. Solange wir damit durchkommen, kräht kein Hahn danach. Erst im Moment der Katastrophe wird der Schrei nach dem Schuldigen laut.“ (Regisseur Johannes Fabrick)
Getrieben von der Sehnsucht nach Erlösung… Achtung, Spoiler-Alarm!
Die Gedankenkonstruktion, die dem ZDF-Fernsehfilm zugrunde liegt, besitzt über die formale Struktur einer Tragödie hinaus eine allgemeingültige Wahrheit. Das gilt nicht nur für den Schuld-Komplex der Geschichte, sondern auch für die sehr spezielle Interaktion zwischen den empfindsamsten Charakteren des Films, den beiden, die am meisten unter der Situation leiden. Der Bruder und die Beifahrerin haben das schlechteste Gewissen und empfinden die größten Schuldgefühle. Beide spüren das – und fühlen sich voneinander angezogen, auch weil sie getrieben werden von der Sehnsucht nach Erlösung. „Verzweiflung, Leidenschaft und Erotik sind guter Treibstoff für die Begierde“, so Fabrick. Bei Mike allerdings lassen sich auch profanere Gründe dafür finden, dass er und Sylvie eine leidenschaftliche Affäre miteinander beginnen – übernimmt er doch in dieser Geschichte die Rolle des Kriminalisten, der unbedingt herausfinden will, wer in dieser unglückseligen Nacht den Wagen gefahren hat. Hat Mike sein erstes Versprechen, auf Finn aufzupassen, nicht gehalten, so will er zumindest sein zweites Versprechen, den „Mörder“ zu finden, unbedingt wahr machen. Auch deshalb, weil er dadurch ein Stück weit die eigene Schuld verdrängen kann. Und so setzt er die junge Frau zunehmend unter Druck: „Bitte, Sylvie, sag‘ die Wahrheit“, insistiert er immer wieder. Doch diese kann und will das Leben ihres Mannes durch eine Zeugenaussage nicht zerstören. „Er ist kein schlechter Mensch“, sagt sie, und sie hat damit nicht ganz unrecht. Wenn man erkennt, was für ihn durch den Unfall auf dem Spiel steht, wenn man weiß, wie schnell und unerbittlich die Öffentlichkeit richtet (dieser hübsche Junge, einfach totgefahren!) und wenn man sich an die Einstellung erinnert, in der der junge Mann ziemlich unvermittelt auf die nachtschwarze Fahrbahn torkelt, müsste man das auch als Zuschauer so sehen. Doch die Suche nach einem Schuldigen, wie man es aus der Alltagskommunikation kennt, macht ebenso wenig wie der Hang, Filmfiguren auf einer Sympathieskala einzuordnen, Halt vor dem aufgeklärten Zuschauer. Dies zu erkennen ist eine der vielen Stärken dieses außergewöhnlich guten TV-Dramas, dem man den Genre-Untertitel „eine moralische Filmerzählung“ geben könnte.
Emotional sein und zugleich dem Zuschauer Distanz zum Geschehen ermöglichen
Das ebenso konzentrierte wie lebenskluge Drehbuch von Susanne Schneider („Bella Block“) hat mit Johannes Fabrick den für diesen Stoff idealen Regisseur bekommen. Der Österreicher hat sich in den 2010er Jahren auf die leider immer seltener werdenden „schweren“ Dramen spezialisiert, die nicht oder nur vordergründig mit dem Krimi liebäugeln und die Verstand und Gefühl gleichermaßen ansprechen. „Der letzte schöne Tag“ (2011), „Der kalte Himmel“ (2011), „Tödliche Versuchung“ (2013), „Unsichtbare Jahre“ (2015), „Zweimal lebenslänglich“ (2015), „Der Polizist, der Mord und das Kind“ (2017), „Hartwig Seeler – Tödliche Erinnerung“ (2019) und zuletzt „Stumme Schreie“ (2019): Es gibt keinen produktiveren deutschsprachigen Regisseur, dessen Filme in den letzten Jahren auf tittelbach.tv durchweg so gut (mit 5 bis 6 Sternen) bewertet wurden. Auch bei „Winterherz“ gelingt es Fabrick, für dieses moralische Drama, das dem Zuschauer an die Nieren gehen muss, eine Bildsprache zu finden, die die emotionalen Situationen nicht verrät und die gleichzeitig immer wieder dem Betrachter eine gewisse Distanz zum Geschehen ermöglicht. Die karge, vom Grün der Natur befreite Landschaft in der dunklen Jahreszeit trägt maßgeblich mit zur Konzentration der Geschichte bei. Und auch die Besetzung der beiden Hauptrollen mit Anton Spieker und Laura de Boer, also vergleichsweise frischen, unverbrauchten Gesichtern, trägt maßgeblich mit zur „Glaubwürdigkeit“ des Films bei. Außerdem hatte Fabrick Glück mit dem Wetter: der Frost und die Winterlandschaft ab und an tauchen die verlorenen Seelen in ein stimmig-stimmungsvolles Ambiente. Oder anders ausgedrückt: Die klare Winterluft ist geschwängert von Schuld und von anderen tiefen, schmerzerfüllten Gefühlen. (Text-Stand: 11.11.2019)