„Mein Name ist Paul Lohmann. Ich bin 47 Jahre alt, und ich bin tot. So gut wie. In knapp vier Stunden habe ich einen Autounfall. Natürlich weiß ich das noch nicht.“ Mit diesen Worten stellt sich in dem ARD-Freitagsfilm „Wer aufgibt ist tot“ die Hauptfigur vor. Dieser Paul Lohmann (Bjarne Mädel) ist ein typischer Mittelklassemann, bisheriger Wohnort Heilbronn, das gediegene Eigenheim in wenigen Jahren abbezahlt, ein durchschnittlicher Angeber, ein Schwätzer, ein Schönredner, einer, der Eindruck schinden will und das sogar noch sagt, womit man ihn als ehrlich, aber ebenso auch als naiv und ungeschickt bezeichnen könnte. Beruflich hat dieser Vertreter von Spiegeln schon bessere Zeiten gesehen. Er war mal der beste Verkäufer seiner Firma. Bis vor zehn Jahren. Seither geht es bergab – auch privat. Seine Frau Edith (Katharina Marie Schubert) will sich scheiden lassen und Tochter Sonja (Amber Bongard) macht keinen Hehl daraus, dass sie ihren Vater, jedenfalls den der letzten neun Jahre, verachtet. „Ich krieg die Kurve“, ist er sich sicher, im Leben wie an jenem 9. Oktober bei der Fahrt zu einem wichtigen Geschäftstermin. Das war nun aber etwas zu optimistisch gedacht. Lohmann kriegt die Kurve nicht, donnert mit seiner potenzprotzigen PS-Schleuder in einen Autobahntunnel, der Wagen überschlägt sich – und die Folge ist: er befindet sich fortan in einer Zwischenwelt. Das Halbwesen hat Glück, dass es seinen blonden Engel Angie (Friederike Kempter) amüsiert, wie er nicht locker lässt und wie leidenschaftlich er mit ihr verhandelt. So gibt sie ihm die Chance, in seinem Leben noch etwas zu verändern. Am Geschehenen kann er noch herumdoktern, ob ihn die Ärzte zurückholen können, ist allerdings mehr als fraglich. Die Organe funktionieren zwar noch, aber sobald sein Hirn tot ist, war’s das für den passionierten Taubenzüchter mit dem Dasein auf Erden.
Die Zeitschleifen-Tragikomödie „Wer aufgibt ist tot“ spielt mit der allseits bekannten Sehnsucht, eine Lebensentscheidung zu korrigieren. Auch jener Paul Lohmann, alles andere als eine große Leuchte, möchte nun im Angesicht des Todes kleine Nachbesserungen an seinem Leben vornehmen. Er will nicht gehen als das kleine Licht, das er in den letzten Jahren war, das wird ihm mit jedem weiteren Versuch, sich und sein Leben zu ändern, deutlicher. Doch seine ersten Versuche sind nichts weiter als Schönheitskorrekturen, kleine Straffungen des Tagesablaufs, um vor 11.43 Uhr in diesen verdammten Tunnel einzufahren. Doch alle diese Variationen enden immer wieder am Unfallort bzw. in der Notaufnahme, wo man noch immer mit Reanimationsversuchen um Lohmanns Leben ringt. Schließlich sieht er ein, dass es ihm vom Schicksal nicht vergönnt ist, den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Und so bittet er um einen weiteren Versuch mit der Begründung: „Ich will, dass Edith mich anders in Erinnerung behält“. Das klingt schon besser, als nur um das eigene Leben zu betteln. Aber so richtig gut stellt sich Lohmann in der Folge auch nicht an – und so bleibt es nicht bei dem einen Versuch. „Man kann es jedes Mal ein bisschen besser machen, bis es perfekt ist – irgendwann“, ist nun seine Maxime. Klingt irgendwie vernünftig, männlich, technisch – und geht prompt ein ums andere Mal daneben. Drehbuchautor Christian Jeltsch fährt damit eine fein herausgearbeitete Breitseite gegen jenen omnipräsenten sozialen Zwang zur ständigen Selbstoptimierung. Solche äußeren Eingriffe in sein altes Leben bewirken nichts, im Gegenteil, daraus ergeben sich nur wieder neue Schwierigkeiten oder sie machen einfach nur deutlich, wie sehr sich Lohmann und seine Frau doch auseinandergelebt haben. Für Blumensträuße, Liebes-Nostalgie, für herzerweichende Kniefälle oder Einladungen zum Miteinanderreden ist es – nachdem die Frau die Scheidung eingereicht hat – längst zu spät, Rückfälle in Alkohol-Exzesse sind die Folge. Ob Lohmann wohl noch jenseits seiner Maschen zu einer Haltung, zu Überzeugungen finden wird, die ihm seine Frau und auch seine Tochter abnehmen?
„Es kommt auf die Details an. Kleine Unterschiede haben große Wirkung“, bringt Regisseur Stephan Wagner den logischen Kern von Jeltschs Geschichte auf den Punkt. Das Gleiche gilt für die dramaturgische Umsetzung dieser wilden „Versuchsreihe“. Die Handlung verlässt die konventionellen Bahnen einer linearen Film-Erzählung, sie springt und sie springt unvorhersehbar, je nachdem an welcher seiner vielen Baustellen der Held gerade den größten Handlungsbedarf sieht. Verlass ist allein auf das Prinzip der Zeitschleife – und auf Paul Lohmann und seinen unbedingten Willen, etwas zu ändern. Man darf sich von ihm überraschen lassen. Durch die Form der Zeitschleifen-Dramaturgie wird jedes überflüssige narrative Beiwerk regelrecht abgeschnitten, Nebenhandlungen im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Kaum ein Moment ohne den Hauptdarsteller – und so besitzt jede Szene auch einen direkten Bezug zur Hauptfigur. Geschickt werden auch die Details der Vorgeschichte dem Zuschauer im Laufe der Handlung zugespielt. Das alles fordert ein waches, aktives Publikum, das sich gern auch mal überraschen lässt. Apropos Überraschung: eine so intelligent gebaute Komödie ist ohnehin schon eine Seltenheit im deutschen Fernsehen; sie auf dem ARD-Freitagssendeplatz zu finden ist bei allem Aufwärtstrend der Degeto-Unterhaltung dann eine weitere deftige Überraschung, die man sich gern gefallen lässt. Und die „Überraschung“, die das Ende des Films bietet (deutet sich zwar früh an), ist die bestmögliche aller denkbaren Lösungen. Aus der ungewöhnlichen Erzählhaltung resultiert im Übrigen auch, dass es am Ende durchaus komplexere Lösungen als das klassische Happy Ende geben kann, Lösungen, die der tragikomischen Tonlage des Films entsprechen. Auch die Moral von der Geschicht’, die augenzwinkernde Anleitung, ein besserer Menschen zu werden, kommt durch all die dramaturgischen Besonderheiten ohne Selbstfindungsgestus und falsche Rührseligkeit aus.
Neben dem anspruchsvollen, originellen Drehbuch von Christian Jeltsch und dem trotz der vermeintlichen Wildheit der Handlung klaren und präzisen Inszenierung von Stephan Wagner, bei der vor allem der gut getimte Erzählfluss ins Auge sticht (vieles fliegt wunderbar leicht am Auge vorbei: so hat gute Komödie zu sein), muss bei „Wer aufgibt ist tot“ ganz besonders der Hauptdarsteller hervorgehoben werden. Bjarne Mädel – er war der „Ernie“ in „Stromberg“, der Dietmar in „Mord mit Aussicht“ und ist immer noch „Schotty“ im „Tatortreiniger“ – ist die perfekte Besetzung als Stehaufmännchen von nebenan, ein Mann, der es zwar zu etwas gebracht hat, aber im Geiste doch ein „kleiner Mann“ geblieben ist – mit seinen Puff-Ge-schichten, mit seiner jahrelangen Affäre, seinen Tauben, seinen Lügen und vor allem dem Wunsch, ein gutes Bild abzugeben, was ihn nach seinem Niedergang zur Witzfigur werden ließ. Mädel, der im Übrigen auch Drama sehr gut kann, wie er in „Die Toten von Hameln“ (2014) und besonders eindrucksvoll in „24 Wochen“ (2016) zeigen durfte, schafft es, diesen Durchschnittsspießer, von dessen Wertvorstellungen man sich eigentlich distanzieren müsste, problemlos lieb zu gewinnen. Mit dem Unfall zieht er den Zuschauer gleich auf seine Seite: Dieser Paul Lohmann wirkt wie ein Opfer, ist irgendwie eine ehrliche Haut – und Fehler, die haben wir doch alle, und diese Eheprobleme dito. Bjarne Mädel ist längst nicht mehr nur der „Ernie“, der Dietmar oder der „Schotty“ (auch wenn Fans der Serien die alten Rollen immer auch auf die neuen projizieren). Für den Kritiker jedenfalls ist er von der ersten Minute an Paul Lohmann, eine arme Socke, die im Leben große Töne spuckt und jetzt, wo’s ans Sterben geht sein (Vertreter-)Herz, seine Menschlichkeit & einen Blick fürs Wesentliche wiederentdeckt. Das hat mit seinen Serienrollen wenig zu tun. Es ist wohl eher Mädels Physis, die männlichen Problemzonen in den Vierzigern, sein „normales“ Aussehen, alles das, was ihn als Gemütsmensch ausweist, was der Zuschauer wiedererkennt und was mit entscheidend ist für die Identifikation mit seinen Rollen. Auch für Stephan Wagner ist Bjarne Mädel, der auf eine sehr unmittelbare und berührende Weise unterhalte, der Schlüssel zu seinem ersten ARD-Freitagsfilm. Der dreifache Grimme-Preisträger formuliert Mädels Verdienste folgendermaßen: Dieser „macht die Tragik der Figur mit all seinen Schwächen so erlebbar, dass wir uns köstlich über ihn amüsieren können. Er interpretiert diesen Paul Lohmann auf eine Weise, die es unmöglich macht, der Figur böse zu sein. Vielleicht, weil wir uns in ihm auf eine sehr berührende und direkte Weise wiedererkennen?“ (Text-Stand: 19.10.2016)