Wie seltsam aktuell diese Songzeilen klingen: „The Eastern world, it is explodin’…“. Barry McGuire hat der Welt einen zeitlosen Klassiker der Popgeschichte hinterlassen: „Eve of Destruction“ ist ein bis heute gültiger, wütender Aufschrei gegen Krieg und Gewalt – und legt sich zu Beginn der „Tatort“-Episode „Trotzdem“ wuchtig über die in Schwarz-Weiß-Bildern komponierte Einführungssequenz. Jemand nimmt eine Pistole in die Hand, und dann geschieht etwas, worüber McGuire schon vor 60 Jahren sang: „If the button is pushed, there’s no runnin‘ away“. Nun geht es in dem famosen Krimidrama von Max Färberböck (Buch, Regie) – sowie Stefan Betz als Co-Autor und Danny Rosness als Co-Regisseur – natürlich nicht um eine atomare Explosion, aber ebenfalls um eine Eskalation, die aus einer schier unaufhaltsamen Verkettung von Ereignissen entsteht, die nicht immer gewollt oder geplant erscheinen.
Der Suizid eines jungen Mannes, der seit drei Jahren wegen des Mordes an einer Frau im Gefängnis saß, setzt die Spirale in Gang. Seine Schwestern Maria (Anne Haug) und Lisa (Mercedes Müller), die ein Dessous-Geschäft in Nürnberg betreiben, sind von der Unschuld ihres Bruders Lenni überzeugt. Vergeblich hatten sie sich bemüht, die Polizei zu weiteren Ermittlungen zu bewegen. Entsprechend kurz angebunden sind Maria und Lisa, als sie nun von Kommissarin Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und ihrem Kollegen Felix Voss (Fabian Hinrichs) um Mithilfe gebeten werden. Deren Chef Dr. Kaiser (Stefan Merki) hat sein Team nach Lennis Suizid aufgefordert, den Fall noch einmal zu überprüfen. Alle ehemaligen Liebhaber des Opfers werden erneut befragt, doch alle scheinen ein wasserdichtes Alibi zu besitzen – bis auf den Jung-Unternehmer Stephan Dellmann (Justus Johanssen), der nur einen etwas dubiosen Leumund aus Serbien vorweisen kann. Während die Polizei noch ermittelt, klingeln die Schwestern schon mal an der Tür des Dellmann’schen Anwesens. Stephan leugnet die Tat, doch die Schwestern lassen nicht locker, und schließlich gibt ihm Lisa einen Stoß vor die Brust, der den jungen Mann über die Brüstung seiner Terrasse in den Tod stürzen lässt. Zwar gibt es keine Zeugen, doch vor der Haustür werden die flüchtenden Schwestern von Stephans Bruder Ben (Ben Münchow) gesehen.
In einer Inszenierung, die unverkennbar Färberböcks Handschrift trägt, baut sich das Drama um die Familie Dellmann und das Schwesternpaar Maria und Lisa langsam, buchstäblich flüsternd und in vielen Nahaufnahmen auf, ehe sich die Spannung in einer wahren Explosion aus ungelenker Entschlossenheit, Verzweiflung und Tod entlädt. Den abrupten Tempowechsel begleitet diesmal Marianne Faithful in ihrer Coverversion des Bob-Dylan-Songs „It’s All Over Now, Baby Blue“. Aus dem herausragenden Episoden-Ensemble ragen zwei Österreicher heraus: Fritz Karl spielt Karl Dellmann, den Vater und erfolgreichen Unternehmer, der in jungen Jahren selbst wegen Mordes im Gefängnis saß und nun als Paradebeispiel gelungener Resozialisation gelten darf. Und Gerhard Liebmann, dieser einzigartige Darsteller des Abgründigen und Absurden, ist Hans Drescher, der in Dellmanns Schuld steht und nun von ihm den Auftrag erhält, die beiden Schwestern zu kidnappen. Doch Dellmann und Drescher sind keine simplen, kaltblütigen Figuren, sondern bieten eine breite Palette schwankender Gefühle. Das Verhängnis, das Lisas Geliebter, der großmäulige Maik (Florian Karlheim), mit heraufbeschwört und das Dellmanns Frau Katja (Ursina Lardi) nicht aufhalten kann, nimmt ihren Lauf. „Wieviel Wahnsinn in dieser Welt“, sagt der fassungslose Dr. Kaiser am Ende der fünften von Max Färberböck geschriebenen und inszenierten Episode des Franken-„Tatorts“.
Neben „Bella Block“ hat der vielfach ausgezeichnete Färberböck („Aimée & Jaguar“, „Anonyma – Eine Frau in Berlin“, „Sau Nummer vier“) auch diese „Tatort“-Reihe auf den Weg gebracht. In „Der Himmel ist ein Platz auf Erden“ (2015) trat der aus Schleswig-Holstein stammende Voss in Nürnberg seinen Dienst an und traf dort auf die ältere Kollegin Ringelhahn, die einst aus der DDR in den Westen geflüchtet war. Beide lernten sich schnell schätzen und bildeten ein zumeist harmonisches Team ohne Allüren oder extreme Charakterzüge, auch wenn Ringelhahn bisweilen aufbrausend und ruppig sein konnte und Voss gelegentlich an sich und seinem Beruf zweifelte. Der Fokus ruht am Ende auf dieser Zweierbeziehung. Kommissarin Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) ist stets unterwegs, aber immerhin telefonisch eine treibende Kraft der Handlung. Das durchaus zahlreiche Personal im Kommissariat dient dagegen nur als stumme Kulisse. Dafür hat Voss‘ geliebte Honigverkäuferin (Maja Beckmann) wieder einen kurzen Auftritt und die muntere Esmeralda Schmuck (Lisa Sophie Kusz) vertritt vorübergehend den Leiter der Spurensicherung Michael Schatz (Matthias Egersdörfer). Manzel und Hinrichs spielen jedenfalls auch in ihrem letzten gemeinsamen Fall zwei unspektakuläre, zutiefst menschliche Ermittler, die freundschaftlich eng verbunden sind. Dennoch überrascht Ringelhahn noch einmal mit verblüffenden Auftritten. Dass ausgerechnet Voss als Einziger nichts davon gewusst haben soll, dass sie in den Ruhestand wechselt, erscheint nicht unbedingt logisch. Aber mit einem unverblümten, deeskalierenden Schachzug auf freiem Feld und einem wunderbaren Solo, das den „Klang der Stille“ vor dem gesamten Kommissariat feiert, verabschiedet sich eine ausgesprochen sympathische Ermittlerin – und eine großartige Schauspielerin vom „Tatort“. Leider.