Ein schwer verletzter junger Mann ist vor der Notaufnahme eines Krankenhauses abgelegt worden. Jener Leo Janek war Mitglied in einem Fallschirmspringer-Club. Offenbar hat dem gefrusteten Familienvater das herkömmliche Springen nicht mehr ausgereicht; den besonderen Kick hat er beim Base-Jumping gesucht, dem Springen von Gebäuden, Brücken, Sende-Masten, von Klippen oder Felsen. Wahrscheinlich ist bei einer solchen nächtlichen Aktion sein Fallschirm nicht rechtzeitig aufgegangen. Fragt sich nur, ob es menschliches Versagen war, oder ob sein Sprunggerät manipuliert wurde. Die Clique jedenfalls um Jules Lanke scheint mehr zu wissen, als sie der Polizei verrät. Grund genug für Nora Dalay, sich auf illegale Weise an die Ermittlungen zu machen. Was sie kann, das kann ihr Ex, Kollege Daniel Kossik, schon lange. Derweil „kümmert“ sich Faber vornehmlich um die Familie des Hinterbliebenen, während es „Mama“ Bönisch nicht nur im Job mit einem „Kindergarten“ zu tun bekommt.
Sechster Einsatz für das Dortmunder „Tatort“-Team. „Schwerelos“ bietet, was die Krimistory angeht, einen eher weniger aufregenden Fall. Angesichts des Personals und des deutlichen Drama-Touchs wird der Krimi-erfahrene Zuschauer, dem auch die eine oder andere Dramaturgie-Variante bekannt ist, nach spätestens 30 Minuten erste Überlegungen hinsichtlich des Täters anstellen. Und nach 60 Minuten dürfte für ihn der Krimi-Drops so gut wie gelutscht sein. Umso augenfälliger ist die dichte Dramaturgie mit ihren vielschichtigen Projektionsflächen und Spiegelungsszenarien. Da ist zum einen das Phänomen „Base-Jumping“, das im Film als „Abbild unserer modernen Leistungsgesellschaft“ herhalten muss. Für Autor Ben Braeunlich ist der Sprung in die Tiefe „kontrollierter Kontrollverlust und ein gelebter Eskapismus – der perfekte Ausdruck für einen übersteigerten Freiheitsdrang einer überforderten Generation auf der Suche nach Identität.“ Was ein bisschen nach Soziologie-Proseminar klingt, vermittelt sich im Film dramaturgisch durchaus plausibel. Nicht zuletzt, weil die krisengeschüttelten Jungermittler Dalay & Kossik auch dieser Generation angehören und beide durch ihre gemeinsame Beziehung, durch Schwangerschaft, Abtreibung und Trennung noch immer nachhaltig erschüttert und emotional zu angeschlagen sind, um ihren Beruf professionell auszuüben. Während Daniel bei harmlosen Techno-Beats das Vergessen sucht, überschreitet die traumatisierte Nora mit einem Tandem-Sprung und sexuellen Avancen gegenüber einem Tatverdächtigen eine Grenze, die sie als Polizistin nicht überschreiten dürfte. Besondere Aktien in der Story hat aber auch Kommissar Faber. „Ich weiß, wie sich das anfühlt“, tröstet er die junge Witwe, die wenig später an seiner Schulter ruht. Der eigene Verlust von Frau und Kind ermöglicht es, Fabers große Wut auf das eigene Schicksal zu bändigen; stattdessen wird der Borderline-Ermittler mit starkem Empathievermögen ausgestattet. So entwickelt er geradezu väterliche Gefühle für den Sohn des Toten. Kommissarin Bönisch dagegen sorgt sich um ihren halbwüchsigen Sohn, der abgetaucht ist.
Züli Aladag über die Inzenierung:
„Auf der Bildebene wollte ich etwas Pulsierendes, Schwebendes und Gleitendes erzeugen. Kamerafahrten, Vogelperspektiven, fliegende und stürzende Kameras, Zooms und Variationen in der Bildgeschwindigkeit gehörten u.a. zu den gestalterischen Mitteln, um diese Geschichte zu transformieren und mich der Emotionalität der Figuren zu nähern.“
Bleiben Faber, Bönisch, Dalay und Kossik mit ihren horizontal erzählten privaten Problemen nach wie vor eines der aufregendsten „Tatort“-Teams, so muss man sich doch fragen, ob sich denn wie in „Schwerelos“ gleich fast alle Ermittler im freien Fall befinden müssen und ob denn immer der Krimiplot sklavisch mit den privaten Subplots kurzgeschlossen werden sollte. Dramaturgisch wirkt das doch einigermaßen formelhaft. Andererseits bekommt dieser „Tatort“– sicher auch durch den psychologischen Druck, der auf allen Charakteren lastet – filmisch eine große ästhetische Geschlossenheit. Das Stammensemble ist, ohne dass diesmal einer herausstechen würde, große Klasse, die Gast-Schauspieler sind stimmig gecastet und die Gewerke greifen bestens ineinander: abwechslungsreich die Bildebene mit ihren ruhigen Innenraum- & den dynamisch inszenierten Sprung-Szenen, den nahen & den extrem totalen Einstellungsgrößen, den ausgefallenen Perspektiven, den äußerst stimmungsvollen Locations (von einer Dortmunder Hochofenanlage bis zur Eifeler Urftalsperre) und einem insgesamt sehr stimmigen Erzählfluss. Emotional gebunden wird die starke Optik von Züli Aladags Film von Karim Sebastian Elias’ sehr flächigen und überaus atmosphärischen Score, der viele narrative Zwischentöne enthält. Fazit: Nach zwei überragenden Filmen befindet sich der „Tatort“ Dortmund mit „Schwerelos“ auf Konsolidierungskurs, bleibt überraschend & sehenswert.