Für Klara Canetti (Anouk Petri) ist das neue Medikament Volmelia die letzte Hoffnung. Doch seit der Einnahme hat sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert. Klaras Mutter (Annina Butterworth) erwägt deshalb, den Pharmakonzern Argon zu verklagen. „Tatort – Risiken mit Nebenwirkungen“ eröffnet mit einer Unterredung, in der die Argon-Anwältin Corinne Perrault, Mutter und Tochter brutal unter Druck setzt, um sie von dieser Klage abzuhalten. Es ist Perrault letzter Auftritt hinter den verspiegelten Bürofassaden des Konzerns. Der Fall hat sie längst zermürbt. Nach dem gewaltsamen Tod der Anwältin ermitteln Ott und Grandjean in mehrere Richtungen. Sie misstrauen der demonstrativen Betroffenheit von Perraults Kollegen in der Kanzlei, erwägen einen Rachemord durch Klaras Mutter und nehmen die ehrgeizige Pharma-Entwicklerin Dr. Arnold (Laura de Weck) ins Visier. Im winterlichen Zürich führen die Wege des Duos in die holzvertäfelten Besprechungsräume der alt-ehrwürdigen Kanzlei, in die Laubengänge einer maroden Hochhaussiedlung, in der Mutter und Tochter Canetti leben, und in die aseptischen Labore des Pharmaunternehmens Argon. So unterschiedlich das Ambiente, so beklemmend die Atmosphäre überall. Das Personal von Argon bewegt sich in gläsernen Büros und Laboren als sei es ständig unter Beobachtung. Das Büro der Kanzlei-Chefin (Theresa Affolter) gleicht einem durch Edelholz abgedimmten Hochsicherheitstrakt.
Regisseurin Christine Repond drehte den vierten Fall des neuen Schweizer Teams back-to-back mit dem Vorgängerfall „Tatort – Schattenkinder“ (März 2022). Beide Tatorte basieren auf einem Drehbuch von Stephanie Veith und Nina Vukovich, die Kamera führte hier wie dort Simon Guy Fässler. Während „Schattenkinder“ dank einer Palette an aufregenden Nebenfiguren überzeugte, filmisch experimenteller, inhaltlich mutiger war, bleibt die Erzählung diesmal sehr nah an den Kommissarinnen kleben. Im Spiel wechselnder Tiefenschärfe und Ausleuchtung konzentriert sich die Kamera im Verhörraum ausschließlich auf ihre Gesichter, draußen folgt sie immer wieder Ott auf ihren Fahrradrouten durch das winterliche Zürich. Man muss die beiden schon mögen, um ihnen ständig so nah sein zu wollen. Im Zusammenspiel der Ermittlerinnen prallen Temperament und Härte der oft übers Ziel hinausschießenden Ott auf die nüchtern abwägende Grandjean. Deren Schwäche offenbart sich nach einer dramatisch verlaufenden Befragung des Medikamentenopfers. „Ich versage einfach immer mit Kindern“ fasst Grandjean ihr Unvermögen in Worte. Streitereien zwischen den Kommissarinnen bleiben weiterhin aus, eine gewisse Distanz offenbaren die Dialoge, in denen sie einander mal mit Du und mal mit Sie ansprechen. Dieser Wechsel ist aufregender als die etwas peinliche Rap-Einlage zum Finale des Falls. Gesangseinlagen sollte der Tatort besser den Wiederholungen mit Stoever (Manfred Krug) & Brockmöller (Charles Brauer) überlassen.
Gelungen dagegen ist der durchgehende elektronische Sound, der die kühle Erzählung um den Pharmafall kongenial ergänzt. Marcel Vaid schuf einen Klangteppich, der sich nie in den Vordergrund drängt, aber an den Wendepunkten der Geschichte den Puls neu justiert. Nach etwa einer Stunde dreht Vaid den Ton tiefer und fügt ein Zittern hinzu. Mit Labormediziner Gastmann (Robert Hunger-Bühler) taucht der erste Protagonist auf, der zwar, wie alle anderen männlichen Kollegen (Kripo-Assistent Noah Löwenherz ist der komische Kauz, Perraults Kollege Matteo Riva eine falsche Fährte) nur zweite Geige spielt, den Gang der Dinge aber trotzdem maßgeblich beeinflusst. Der bis dato unbekannte Widersacher der verdächtigen Pharmaforscherin Dr. Arnold hat ein vernichtendes Gutachten über deren Medikamentenstudie verfasst. Wer auf Hyänen wie Gastmann und Arnold vertrauen darf, kann auf Stutenbissigkeit im Kripo-Team getrost verzichten. (Text-Stand: 20.8.2022)