Der 17jährige Simson (Merlin Rose) ist ein sogenannter „Prankster“, er spielt seinen Mitmenschen kleine Streiche, filmt diese Aktionen und lässt seine riesige Fan-Gemeinde im Internet daran teilhaben. Eines Abends, nachdem er sich mit ein paar Rockern angelegt hat, wird er scheinbar mitten in Dresden erschossen, Hunderttausende sind wie immer live dabei. „Der steht bestimmt gleich wieder auf“, glauben die Kenner der Szene. Doch Simson steht nicht wieder auf… Verdächtige gibt es viele: Simsons Manager (Daniel Wagner), der das Geld seines Zöglings verzockt hat, der „Prankster“-Rivale Dennis alias Scoopy (Wilson Gonzalez Ochsenknecht), ein dealender Klinikarzt (Ulrich Friedrich Brandhoff), den der Tote offenbar mit einem Video erpresst hatte, und Teenager Emilia (Caroline Hartig), die nicht nur Fan, sondern vielleicht auch „Opfer“ des Toten war. Henni Sieland (Alwara Höfels) und Karin Gorniak (Karin Hanczewski) müssen in einer Szene ermitteln, an deren Praktiken sie sich erst gewöhnen müssen. Alibis gibt es per Video, Befragungen werden heimlich aufgezeichnet und landen Minuten später im Netz und auch die Geschäftsmodelle hinter diesen ganzen Online-Jokes sind ziemlich fragwürdig, wie vor allem auch Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach) konstatieren muss, der vollkommen ausrastet, als ein intimes, die Menschenwürde verletzendes Video von einem der Verdächtigen ins Netz gestellt wird: „Kann denn nicht jemand dieses verdammte Internet einfach wieder abschalten?!“
Foto: MDR / Gordon Muehle
Alles wird öffentlich. Der „Tatort – Level X“ schließt die schöne neue Onlinewelt kurz mit dem Regelwerk des Fernsehkrimis. Die Ermittlungsarbeit ist nicht länger allein Sache der Polizei, alle Welt mischt mit bei diesem Fall. So verfolgt beispielsweise Gorniak den Mord zu Beginn mit ihrem Sohn Aaron zufällig live am Computer. Später bricht über die Kommissarinnen ein Shitstorm herein, als sie sich von einem der Verdächtigem böse haben aufs Glatteis führen lassen. Überhaupt: Verdächtig sein gilt im Krimi wie auch im „normalen Leben“ als eher nicht erstrebenswert; in der virtuellen Welt der Online-Communities sorgt verdächtig sein hingegen für eine große Öffentlichkeit, für Nervenkitzel, und dieses Bad-Boy-Image generiert vor allem „Klickrates“. Der Mord an dem Internetstar und die Trauer um ihn wird nicht weniger gewinnbringend ausgeschlachtet. Was im „Tatort“ und anderen Krimis sonst die Raffkes aus der Großindustrie oder die Politmafia im Nadelstreif sind, sind hier die überheblichen Geschäftemacher einer jungen hippen Branche. So jedenfalls entwirft Richard Kropf , Ko-Autor der Amazon-Prime-Serie „We are wanted“ und der TNT-Serie „4 Blocks“ (beide 2017), das Scenario des dritten „Tatorts“ aus Dresden. Der Autor greift mit dem Plot einen aktuellen Trend der Medienbranche auf, überzeichnet ihn ein Stück weit ins Fiktionale, kombiniert ihn mit einem Verbrechen und füllt so alten Krimiwein in neue Schläuche – sprich: ein an sich simpler Whodunit mit reichlich Verdächtigen und zahlreichen Motiven wie Neid, Erpressung, Habgier und Rache macht plötzlich mit einem gesellschaftlich relevanten Thema und seiner ästhetischen Oberfläche ganz schön was her.
Soundtrack: Kanye West & Jay-Z feat. Frank Ocean („No Church In The Wild“), Ta-Ku feat. Wafia („American Girl“), Amil & Ja Rule & Jay-Z („Can I Get A.“)
Foto: MDR / Gordon Muehle
„Level X“ integriert das Internet und das Spiel mit dessen Live-Rezeption dramaturgisch geschickt in die Handlung und ästhetisch überaus reizvoll in das Filmbild. Vielversprechend ist bereits der Einstieg. Eine komische Situation und jener Simson ist vorzüglich charakterisiert, sogar schon eine der Kommissarinnen ist live integriert in das Geschehen, an dessen Ende der Mord steht. Das sind furiose drei Filmminuten. Das ist Informationsvergabe vom Feinsten. Weil quasi alle auf den Bildschirm gestarrt haben, auf dem der Sterbende zu sehen war, hat keiner auf das Gegenüber (das nicht im Bild war, aber real am Tatort) geachtet. Die Folge: Es fehlt eine verlässliche Täterbeschreibung. Die zahlreichen, über den gesamten Film verteilten Videofilme bzw. Live-Streams sind Botschaften aus einer anderen Welt. Eine Welt, die den erwachsenen Charakteren weitgehend verschlossen bleibt. Die (Smartphone-)Bilder, die in dieser Welt generiert werden, die sind allerdings längst massenkompatibel und lassen sie sich bruchlos in diesen 90minütigen „Tatort“ einfügen. Das wirkt weder aufgesetzt noch gewollt cool. Die Videos verdichten die Handlung, sie spiegeln die (Psyche der) Akteure, führen neue mögliche Tatmotive ein, bringen sinnliche Abwechslung ins Spiel, sind Mittel, um Haltungen zu zeigen und Konflikte entstehen zu lassen und sie sind vor allem ein effektives Mittel zur Spannungserzeugung. Besonders auf der Zielgeraden dominieren wilde Parallelmontagen, es verschmelzen Action-Handlungen mit diversen Smartphone-Ansichten. Es ist später Abend, eine Person schwebt in Lebensgefahr und wieder einmal schaut ganz Dresden zu. Der Emotionsgehalt ist hoch. Aber diesmal ergießt sich kein Shitstorm über die Kommissarinnen.
Ein Fall, ein Milieu, ein Scenario, ein Tempo, passend zu den Grazien aus Dresden, die sehr gut zu Fuß sind und zulangen können. Autor Kropf und Regisseur Gregor Schnitzler, der wieder mal ein feines Gespür für Krimi-Timing, visuell reizvolle Locations und die richtige Besetzung (ohne allzu bekannte Gesichter) beweist, finden das für dieses Thema passende Maß an Figuren-„Humor“. Auf Seiten der Ermittlerinnen ist eher eine bodenständige Coolness auszumachen. Kein Wunder bei einem 17jährigen Mordopfer und einem Jugendlichen in Lebensgefahr. Da spürt auch Chef Schnabel, wie ihm die Galle hochkommt; nur das verflixte Internet erlaubt es Martin Brambach, zumindest kurz dem Affen etwas Zucker zu geben. Ansonsten gilt: Schluss mit lustig. Eigentlich schade. Doch wenn ein ernsthafter Krimi, der sogar noch als konventioneller Whodunit daherkommt, so clever mit Thema, Genre und Bildästhetik spielt und von Alwara Höfels und Karin Hanczewski auch in dieser unironischen Form bestens getragen wird, dann gibt es nichts zu meckern. (Text-Stand: 14.5.2017)