Bisher galt die außergewöhnliche und preisgekrönte Episode „Im Schmerz geboren“ vom Hessischen Rundfunk (HR) mit 51 Toten als Spitzenreiter in der makabren Hitliste: Welcher „Tatort“ bringt es auf die meisten Leichen? Nun erobert das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) diese etwas zweifelhafte Poleposition, zumindest auf dem Papier – was wörtlich zu nehmen ist, weil die vielen Toten gar nicht im Bild zu sehen sind, sondern nur auf einem Zettel stehen, von dem ein Polizist im Zürcher Kommissariat die neuesten Todeszahlen abliest. Während die meisten Toten in dem HR-Film mit Ulrich Tukur im Jahr 2014 bei einer wilden Schießerei in Western-Manier niedergestreckt wurden, fallen die Menschen in „Kammerflimmern“ ganz leise und völlig überraschend einfach um. Gespenstisch, dieser plötzliche Tod auf den Straßen Zürichs. Vier namenlose Menschen erwischt es gleich zu Beginn. Drehbuch (Petra Ivanov, André Küttel) und Regie (Barbara Kulcsar) verzichten darauf, auch nur eine einzige Geschichte irgendeines der zahlreichen Opfer zu erzählen. Das macht das anonyme Massensterben zwar noch unheimlicher, hält es aber auch auf Distanz. Bezeichnend ist, dass Kommissarin Tessa Ott (Carol Schuler) erst um ihre Mutter Madeleine (Babett Arens) bangen muss, damit sich die mit technischen Fachausdrücken gespickte Spannung im Film auch mit etwas Emotionalität und Anteilnahme auflädt. Kurz gesagt: Es gibt viele Leichen, aber der Tod der Menschen lässt einen weitgehend kalt.
Foto: SRF / Degeto / Sava Hlavacek
Dennoch hätte das Szenario eine Menge Potenzial für einen atemlosen Cyber-Thriller in einer Welt, in der Menschen und Maschinen buchstäblich eins werden. Im ARD-Presseheft ist von einem „unwahrscheinlichen, aber denkbaren Horrorszenario“ die Rede: Die Opfer sind Herzkranke mit einem implantierten Defibrillator (ICD), der normalerweise Kammerflimmern mit einem elektrischen Impuls bekämpft oder auch die Funktion eines Schrittmachers übernimmt. Im Krimi löst der ICD jedoch einen bei vielen Patienten tödlichen Stromstoß aus. Schnell ist von einer enorm hohen Zahl potenzieller Opfer die Rede: Etwa 2400 Menschen sind in der Schweiz von einem falschen Update betroffen, mit dem Hacker die Firma Lauber Cardio erpressen. Erst wenn 317 Millionen US-Dollar in Kryptowährung bezahlt werden, soll die gefährliche Software mit Hilfe eines digitalen Schlüssels unschädlich gemacht werden. Und da schon aus anderen Schweizer Kantonen erste Opfer gemeldet werden, geraten Polizei und Krankenhäuser unter enormen Zeitdruck. „Kammerflimmern“ erzählt jedoch einen etwas umständlichen und (nicht nur in technischen Details) nicht immer einleuchtenden Plot um einen Bruderzwist und den Konkurrenzkampf mediziner Start-ups. Trotz Splitscreens, trotz der auf den Rhythmus der Herzschläge abgestimmten Filmmusik (Bálint Dobozi) und gelegentlicher Einblendungen von Ort und Uhrzeit: Von der Spannung und Dramatik eines Echtzeit-Thrillers (wie etwa in der Serie „24“ vor mehr als 20 Jahren) ist dieser „Tatort“ meilenweit entfernt.
Nachvollziehbar ist natürlich, dass die Krise geheim gehalten wird, um keine Massenpanik auszulösen. Derart niedrigschwellig erzählt, kann die Inszenierung einigermaßen glaubhaft auf großspurige Politiker, Sondereinsatzkommandos und Geheimdienstler verzichten. Seltsam mutet aber doch an, dass nur die junge Journalistin Paula Bianchi (Annina Walt) angesichts der vielen Herztoten und Not-Operationen in Krankenhäusern Lunte wittert. Einige weitere Ungereimtheiten sorgen überdies für Verwirrung: Unverständlich bleibt zum Beispiel, warum Hacker Albin Fischer (Sven Schelker), als Reinigungskraft verkleidet, den digitalen Schlüssel in Form eines USB-Sticks in den Räumen von Lauber Cardio deponieren will, ihn dann aber doch panisch wieder einsteckt, als die Polizei zur Durchsuchung anrückt. Falls er wollte, dass das Sterben aufhört, hätte er ihn nicht besser da gelassen? Oder den anonymen Briefumschlag gleich zur Polizei geschickt? Die Cyber-Attacke ist mit einem hübschen musikalischen Zitat garniert, dem Blumenduett aus der Oper „Lakmé“, entzieht sich aber ohnehin dem Verständnis eines breiten Publikums, das etwa mit „Release-Dateien im Quellcode“ herzlich wenig anfangen dürfte.
Foto: SRF / Degeto / Sava Hlavacek
Das Schweizer Team macht dennoch Freude, was vor allem am zunehmend selbstverständlicher wirkenden Zusammenspiel der Hauptdarstellerinnen Schuler und Zuercher liegt. Ihre Figuren bringen als Frauen aus unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichen Temperamenten eine besondere Farbe in die Vielfalt der „Tatort“-Ermittler ein. Statt eines unzeitgemäßen „Zickenkriegs“ ist das Verhältnis zwischen den Kommissarinnen von wachsendem Verständnis und gegenseitiger Achtung geprägt, ohne dass daraus eine große Sache würde. Eine scheue Umarmung ist immerhin drin. Der Technikfreak ist allerdings mal wieder der männliche Kollege, was die wohlklingende Figur des Kriminaltechnikers Noah Löwenherz (Aaron Arens) in dieser Technik-affinen Episode ausnahmsweise mal auf Augenhöhe bringt. Und die Zahl der zumeist namenlosen Toten steigt bis zum Ende auf den „Tatort“-Rekordwert von 68 an – mitgerechnet auch diejenigen, die nicht an Stromstößen gestorben sind.