Zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Ein Treppenhaus, ein Ball. Vor einer Wohnungstür explodiert eine Briefbombe, ein Junge erschrickt, fällt die Treppe herunter und ist tot. Der Anschlag galt offenbar dem Berliner Radiomoderator Nico Lohmann und seiner Freundin Anne. Die Bombe ist ein Dilettantengeschoss, kein Mordwerkzeug. Ritter und Stark ermitteln dennoch weiter: Sie vermuten zumindest „eine handfeste Warnung“ hinter dem Vorfall, der nicht der einzige war in den letzten Wochen. Lohmann spielt alles herunter: „durchgeknallte Hörer“, glaubt er. Die Kommissare stoßen bald auf einen besonders wütenden Lohmann-Hasser. Dass seine schwangere Freundin Angst hat, berührt den Moderator wenig. Nicht nur vor ihr scheint der auffallend in sich gekehrte junge Mann so manches Geheimnis zu haben. Als sich herausstellt, dass Lohmann, der einst ein vom eigenen Vater gecoachter Leistungsschwimmer war, vor Jahren einen schweren Autounfall hatte, der ihm die Karriere und einer Frau & ihrem Kind das Leben kostete, bekommt der Fall eine größere Dimension.
Der „Tatort – Großer schwarzer Vogel“ ist kein klassischer Täter-Mord-Ermittlungskrimi. Gesucht wird in dem unaufgeregt erzählten Film von Alexander Dierbach kein Mörder, kein Mensch, der vorsätzlich getötet hat. Je tiefer man hineingerät in die Vita jenes ehemaligen Profi-Sportlers, umso mehr nimmt der Drehbuchautor Jochen Greve den Zuschauer mit in psychologische Gefilde. Es gibt Kranke, seelisch Verletzte, verschlossene Menschen, gescheiterte, schwermütige Existenzen. Es gibt nur Opfer. Träume und Kinder werden zu Grabe getragen. Lohmann, der Night-Talker, bekommt so manches Leid geklagt, sogar Kommissar Ritter griff einst wegen seiner Schlaflosigkeit zum Hörer. Depressionen blühen am Wegesrand – durch sie geraten Menschen ins Schleudern. Da wird der Unfall zur Metapher. Großer schwarzer Vogel“ meistert den Spagat zwischen Krimi und Psychodrama. Statt allzu viele Personen durch die Handlung zu schleusen, konzentriert sich der Plot auf acht Figuren.
Boris Aljinovic über „Tatort – Großer schwarzer Vogel“:
„Verletzungen der Vergangenheit können über Generationen traumatisieren. Dies war das tiefere System hinter der Geschichte. Ich mochte das, wenn es auch schwierig war, das stark Poetische des Buchs in ‚Tatort‘-Realismus umzusetzen.“
Auch wenn einige Momente der (Krimi-)Handlung retrospektiv nicht eindeutig einzuordnen sind (sie am Ende von den Kommissaren verbal erklären zu lassen wäre gewiss ärgerlicher) – so bekommt doch dieser RBB-„Tatort“ eine große Geschlossenheit, zum einen durch die stimmig-stimmungsvolle Inszenierung mit einem ebenso klaren wie unaufdringlichen Bildstil und durch das überzeugende Spiel des gesamten Ensembles, das bestens angepasst ist an die unterkühlte Moll-Tonart. Wie immer zuletzt sind Ritter und Stark gute Fall-Moderatoren: zurückgenommen & doch ausreichend präsent. Kurz vor Toreschluss dieses „Tatort“-Teams fanden Raacke und Aljinovic den Tonfall, den sie jahrelang gesucht haben. Florian Panzner bestätigt, dass seine Top-Leistung in „Mord in Eberswalde“ keine Eintagsfliege war; auch Klara Manzel dürfte eine große Zukunft vor sich haben und der Theaterschauspieler Peter Schneider sowie der Shootingstar der letzten Jahre, Julia Koschitz, machen selbst ihre vergleichsweise kleinen Rollen noch zu fein hingetuschten, nuancenreichen Miniaturen. Fazit: „Großer schwarzer Vogel“ ist ein leiser, anspruchsvoller Ausstand für die beiden Berliner Buddies, ein Film, der sich in jeder Hinsicht sehen lassen kann. (Text-Stand: 12.1.2014)