Im Berliner Tiergarten finden Obdachlose die Leiche einer erschlagenen jungen Frau. Prompt geraten die Stadtstreicher selbst in Verdacht. Ein älterer Mann aus der Gruppe bricht nach der Vernehmung auf der Straße zusammen und stürzt vor ein Auto. Als kurz darauf ein zweiter stirbt, glaubt Kommissar Walther (Brandt) nicht mehr an einen Zufall. Dank des Prologs ist das Publikum den Ermittlern einen Schritt voraus: Der Arzt und Wissenschaftler Konrad Ansbach (Mueller-Stahl) sucht mit finanzieller Unterstützung seines Bruders Gerd (Hallwachs) nach einem Mittel gegen Leberzirrhose. Bei Ratten war das Serum bereits erfolgreich, nun braucht er menschliche Versuchskaninchen; der tote Kutte war seine erste Testperson.
„Freiwild“ lässt nie einen Zweifel daran, dass der Film ein Krimi ist, aber im Hintergrund erzählt Drehbuchautor Heinz-Dieter Ziesing ein Familiendrama. Entsprechend interessant sind die Entwürfe der Figuren: Konrad Ansbach gibt sich als Philanthrop, der damit hadert, dass seine Arbeit Menschenleben kostet; aber er nimmt auch in Kauf, dass für den wissenschaftlichen Fortschritt Opfer gebracht werden müssen. Sein Bruder Gerd, ein Apotheker, ist ungleich skrupelloser und spricht gar von „unwertem Leben“, ein Begriff, mit dem die Nationalsozialisten unter anderem Versuche an Menschen gerechtfertigt haben; auf diese Weise rückt Ziesing das Brüderpaar in die Nähe des berüchtigten Auschwitz-Arztes Josef Mengele. Gekrönt wird die Familie von einer dieser typischen Filmmütter, deren furchtbare Dominanz stets herhalten muss, wenn das abnorme Verhalten von Serienmördern erklärt werden soll; Tilly Lauenstein verkörpert diese klirrend kalte Frau wie eine Figur aus einem Edgar-Wallace-Film und daher haarscharf am Rand zur Karikatur. Mittendrin in der Mischpoke und als einzige wirklich unschuldig ist Konrads Frau Brigitte (Witta Pohl).
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Schon allein die Besetzung der Familie Ansbach ist äußerst namhaft. Die vielbeschäftigte Witta Pohl war Weihnachten 1983 und somit nur wenige Wochen vor „Freiwild“ zum Auftakt des Familienserienklassikers „Diese Drombuschs“ erstmals in der Rolle zu sehen, die sie zu einer der beliebtesten Schauspielerinnen werden ließ. Auch Hans-Peter Hallwachs hatte sich spätestens durch seine Titelrolle in der Kästner-Verfilmung „Fabian“ in der Liga der gefragten Darsteller etabliert. Unangefochtener Star des Films ist jedoch Armin Mueller-Stahl. Er gehörte zu jenen ostdeutschen Künstlern, die 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten, und wurde daraufhin kaltgestellt. Nach seiner Ausreise in den Westen (1980) konnte er vor allem durch die Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder („Lola“) nahtlos an seine glanzvolle DDR-Karriere anknüpfen. Mueller-Stahl, der eine sichere Karriere als deutscher Fernsehstar ausschlug, um sich wenige Jahre nach „Freiwild“ ohne nennenswerte Englischkenntnisse in das Abenteuer Hollywood zu stürzen, war bekanntermaßen bei der Auswahl seiner Rollen ausgesprochen wählerisch; auch das spricht für Ziesings Drehbuch.
Regisseur Wolfgang Staudte, einst berühmt geworden durch den Nachkriegsfilm „Die Mörder sind unter uns“ und spätestens dank des Mehrteilers „Der Seewolf“ auch einer der wichtigsten Fernsehregisseure, hatte schon einige „Tatort“-Episoden mit Hansjörg Felmy inszeniert; „Freiwild“ war sein erster Sonntagskrimi für den SFB. Für Staudtes Verhältnisse ist die Kameraarbeit (Gérard Vandenberg) in diesem Film fast schon dynamisch. Dem Regisseur war die Arbeit mit den Schauspielern offenkundig stets wichtiger als eine kreative Bildgestaltung. Sein entsprechendes Talent zeigt sich nicht nur in den Szenen mit den großen Namen. Es ist zwar unnachahmlich, wenn Mueller-Stahl im Flüsterton Ansbachs Skrupel formuliert, aber auch die Szenen mit den Obdachlosen (verkörpert von Hans-Helmut Dickow, Bruno Hübner oder Paul-Albert Krumm) sind eindrucksvoll und wirken sehr lebensnah. Konrad Ansbach nennt diese Menschen gern „Gestrauchelte“, was Ziesing unterstreicht, indem er sich die Zeit nimmt, die Geschichten ihres Absturzes zu erzählen. Auf diese Weise bereichert er den Film um viele kleine Nebenebenen. Am Ende sind es ausgerechnet die Gestrauchelten, die Ansbach zu Fall bringen; der Film endet allerdings etwas unvermittelt.
Zu den eher schwächeren Szenen gehört dagegen die Ermittlerarbeit, und das, obwohl Volker Brandt als Hauptkommissar seit seinem vierten Film („Fluppys Masche“) endlich nicht mehr nur Nebendarsteller im eigenen Krimi war. Nun zeigt sich auch, wie wichtig Ulrich Faulhaber als Brandts Ergänzungsspieler Hassert war: Der Assistent, der schon für Walthers Vorgänger Kommissar Hirthe tätig war, weilt diesmal an der Ostsee und hinterlässt eine Lücke, die sein Vertreter (Helmut Gauß) nicht annähernd schließen kann. (Text-Stand: 18.7.2017)