Nach dem Spiel ist vor dem Acker. Nach einer Massenschlägerei unter verfeindeten Fußball-Fans eines Saar-Pfalz-Derbys stirbt Andreas Schneider (Nils Bannert) in der Notaufnahme. Der Zuschauer weiß in diesem Moment, wie es zu Schneiders Schädelverletzung kam. Nicht aber, wer die lebensbedrohliche Stichverletzung an seinem rechten Bein verursacht hat. Schon die ersten Szenen, die Montage eines Kampfes der beiden Hooligan-Gruppen, machen klar, dass an diesem „Tatort“ eher die Gesetze des Western als eine kühle Beobachtung das Genre vorgeben. Trotz der eingesteckten Hiebe schleppt sich Andreas Schneider anscheinend aus eigener Kraft zum Krankenhaus. In der Schiebetür zur Notaufnahme klappt er bewusstlos zusammen. Von dem reglosen Körper im Durchgang blockiert, öffnet und schließt sich die Tür immer wieder. Ein starkes Bild. Nachdem Rechtsmedizinerin Dr. Henny Wenzel (Anna Böttcher) den Blutverlust durch die Stichverletzung als Todesursache diagnostiziert, konzentrieren sich die Ermittlungen auf die letzte Stunde im Leben von Andreas Schneider.
Foto: SR / Manuela Meyer
Im Lauf der Erzählung arbeitet Autorin Melanie Waelde auch die Gräben zwischen den Saarbrückener Ermittlern heraus. Während sich Leo Hölzer (Vladimir Burlakov) und Pia Heinrich (Ines Marie Westernströer) mehr und mehr in den Fall verbeißen, gerät Esther Baumann (Brigitte Urhausen) in einen Gewissenskonflikt. Erstmals muss sie sich im Kreis ihrer Fußball-Fangemeinde als Kommissarin outen. Ihre Nähe zum Fanprojekt hätte die Ermittlungen erleichtern können, nun aber werfen ihr die Freunde vom Platz Verrat vor. Mehr als den Gegner hassen alle die Polizei. Kommissar Adam Schürk (Daniel Sträßer) kann sich aus anderen Gründen nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ein paralleler Erzählstrang widmet sich seiner Verstrickung in den letzten Raubzug seines Vaters. Adams Alleingänge und die undurchschaubare Solidarität seines Kollegen Leo verstören vor allem die korrekte Esther. Die Differenzen in dem jungen Kripo-Team, dass äußerlich unter Fußballfans erstmal nicht auffällt, durchziehen als Subtext den Fall und legen nahe, dass auch die Vertreter des Gesetzes nicht unbeschadet durchs Leben gehen.
Oberste Geheimnisträgerin und zentrale Figur auf der anderen Seite ist Alina Barthel. Unter der Obhut ihres großen Bruders Bastian (Lorris Andre Blazejewski) wirft sich die junge Frau mit voller Wucht mit in den Staub und teilt in den Ackermatches gezielte Schläge gegen ihre männlichen Gegner aus. In Spiel und Aussehen wirkt Bineta Hansen in dieser Rolle wie die erwachsene Version der neunjährigen Benni aus dem Kinodrama „Systemsprenger“. Alinas Beziehungen und die Existenz ihrer kleinen Tochter, die zeitweise bei Pflegeeltern lebt, werfen ein neues Licht auf den Fall. Mit dem Wissen um das Kind (und dessen Vater) erweitert sich der Kreis der Verdächtigen von wütenden Hooligans auf potenziell Eifersüchtige, verlassene Männer, leidende Ersatzväter. Keiner von ihnen nimmt Alina etwas von ihrer physischen Wucht. Wie zu Beginn, so steht sie auch zum Finale im Mittelpunkt. Mit Adam Schürk liefert sie sich eine wilde Verfolgungsjagd durch das Labyrinth einer saarländischen Industriebrache.
Foto: SR / Manuela Meyer
Schläge muss man spüren, Flüchtende verfolgen. Die Inszenierung nimmt das Mantra der Protagonisten ernst. Die Kamera ist ständig in Bewegung. Im Kontrast zu ausgesuchten schwarz-weiß-Stills aus Überwachungskameras, die den Ermittlern im Lauf des Falls wertvolle Indizien liefern, ist die Kamera während der Erzählung immer agil. Regisseurin Kerstin Polte und Kamerafrau Christiane Buchmann halten selbst eine kurze Team-Besprechung mit wechselnder Tiefenschärfe, behutsamen Schwenks und „mitlaufender“ Kamera lebendig. Hinzu kommen Drohnenflüge über die Lost Places ehemaliger Industriestandorte und als Highlight eine Kopfüber-Drehung während einer Autoverfolgung. Saarbrücken gegen Kaiserslautern wird so zum visuellen Vergnügen. Auf musikalischer Ebene verzichtet „Tatort – Die Kälte der Erde“ weitgehend auf Songs aus der Dose. Ausnahme ist Kylie Minogues „Can`t get you out of my Head“ in Minute 35. Zu den Hooligan-Kämpfen, die die Geschichte rahmen, erklingen rhythmische Schläge und Männergesang – irgendwo zwischen Wikingerlegende und dem Rammstein-Intro zu deren Song „Engel“. Der Sound passt zum Bild. Anders als der minimal dosierte Musikeinsatz, erzählt das Licht durchweg seine eigene Geschichte. Viele Szenen sind im Gegenlicht aufgenommen. Wo gerätselt wird, ist es meist hell und kalt, im Wohnzimmer von Alina Barthel kämpft sich nur zäh die Sonne durch, erst in der Fan-Spelunke tanzt der Staub im Licht und macht es fast gemütlich. Am verlässlichsten wird es warm, wo Leo Hölzer und Adam Schürk für kurze Zwiegespräche zueinanderkommen. „Wenn ihr ein Paar wärt, würde man sagen, ihr habt eine toxische Beziehung“, warnt Pia ihren Kollegen Leo. „Ob du recht hast oder nicht, sagt dir gleich das Licht“ möchte man mit Michael Schanze hinzufügen.
Auch wenn die Machart diesmal mehr überzeugt als der eigentliche Fall: Auf den nächsten Einsatz des Saarbrücken-Teams würde man lieber nur ein halbes als ein ganzes Jahr warten. Neugierig macht nicht nur die Aussicht auf Adam Schürk, der mit seiner Vergangenheit vielleicht auch die ausgeblichene Jeanskombi im 80er-Charme ablegt. Saarbrücken vereint unbekannte Schauplätze mit dem jüngsten Team der Tatort-Familie. Nur einmal im Jahr präsent kann der Zuschauer diese spannende Kombi doch leicht aus den Augen verlieren.