Nach einem Mord in einer JVA stoßen Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) bei ihren Ermittlungen im Knast an ihre Grenzen. 18 potenzielle Täter, die den Obermacker im Bau (Ralph Herforth) unter der Dusche abgestochen haben könnten, hat Kalli (Ferdinand Hofer) recherchiert. „Die Insassen haben nichts zu gewinnen“, dieser Satz des Gefängnisdirektors (Thomas Huber) scheint sich bei jeder weiteren Befragung zu bewahrheiten. Keiner will etwas gesehen haben. Leitmayr hat ausgerechnet den sanftmütigen Dieter Scholz (Carlo Ljubek) unter Verdacht. Der passionierte Autofrisierer, der sich aus knastinternen Machtkämpfen stets raushält, will mit seinem Sohn ein neues Leben beginnen und steht einen Tag vor seiner Entlassung. Der Ermordete hat ihm gedroht, seinem Sohn etwas anzutun. Weitere Motive wie Rache, Eifersucht, Drogengeschäfte oder Verteilungskämpfe lassen sich erstmal nicht ermitteln. Möglicherweise könnte der Lover des Toten (Merlin Leonhardt) weiterhelfen. Oder Kevin Schneider (Alexander Martschewski), der Zellenkollege von Scholz. Aber noch herrscht das große Schweigen. Selbst bei den Schließern. Und Anja Bremmer (Jule Ronstedt) scheint gemeinsame Sache mit einigen Insassen zu machen.
Foto: BR / Sappralot / Hendrik Heiden
Wenn Kommissare aus ihrer Ermittlerroutine gerissen werden und sie nicht mehr die Spielregeln vorgeben können, ist das eine willkommene Abwechslung auch für den Zuschauer. In „Das Wunderkind“, dem 95. „Tatort“-Einsatz von Batic/Leitmayr, müssen die beiden ihr Quartier in einem Gefängnis aufschlagen. Sie haben keine Handhabe gegen diese selbstbewussten Inhaftierten mit Kurzzeitgedächtnisverlust. Selbst die Gefängnisleitung zeigt sich wenig motiviert. Und dann sind auch noch die Videos der Überwachungskameras gelöscht. Dieser Fall wird sich wohl nicht auf herkömmliche Art lösen lassen. Dramaturgisch gibt es zwei Möglichkeiten: ein weiteres Verbrechen oder eine Hilfe von außen, die jemanden zum Reden bringt. Autor-Regisseur Thomas Stiller hat sich zunächst für die zweite Variante entschieden. Bis es soweit ist, übernimmt das Drama um Scholz, jenen Muster-Gefangenen, seinen Sohn, das titelgebende musikalische „Wunderkind“, und um die Pflegeeltern, bei denen der Junge die letzten Jahre gelebt hat, die narrative Oberhand. Während der Krimiplot milieugerecht unterkühlt bleibt, durchlebt man das Familiendrama als ein tragisches Wechselbad der Gefühle. Es gibt Argumente für beide Seiten. Dass dieser Beziehungskonflikt nicht dramatisch hochgejazzt wird, sondern eine emotional moderate Tönung bekommt, ist auch dem überzeugenden Trio Carlo Ljubek, Sarah Bauerett und Lasse Myhr zu verdanken.
Die erste Sorge beim Blick auf den über 20-köpfigen Cast: Wird man als Zuschauer die Figuren – insbesondere die Verdächtigen – deutlich und schnell auseinanderhalten können? Bei anderen, figurenarmen „Tatort“-Knast-Filmen wie „Die Heilige“ (BR, 2010) oder „Franziska“ (WDR, 2013) war das kein Problem. In „Das Wunderkind“ ebenfalls nicht. Markante Gesichter und relativ differenzierte Charaktere sorgen rasch für gute Orientierung im Knast-Mikrokosmos, der selbst nach dem Tod seines „Lautsprechers“, natürlich nichts für Feingeister ist; ähnlich wie man von einem Gefängniskrimi kein psychologisch diffiziles Kammerspiel für Genre-Ästheten erwartet. Das Personal färbt auf den Plot ab. Ob Insassen oder JVA-Angestellte – eingesperrt sind sie alle, die meisten scheinen sich ihrem Schicksal zu ergeben. Die Stimmung ist aggressiv, latente Gewalt ist in jeder Szene spürbar. Es herrscht die Macht des Stärkeren; das bekommt schließlich auch Batic schmerzhaft zu spüren.
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Ein wohldurchdachter Kontrast zum grauen Knast-Alltag, der sich auch in der Ausstattung spiegelt (gedreht wurde bei laufendem Betrieb in der JVA Landshut), ist das moderne Schöner-Wohnen-Ambiente der Pflegefamilie, das drei Luxus-Klassen über dem liegt, was der leibliche Vater seinem Sohn bieten kann. Ästhetisch entlastend wirkt allerdings auch dieser (Wohn-)Raum nicht, spiegelt doch diese gestylte Fassade ein Stück weit den verzweifelten Versuch, das Idealbild der Kleinfamilie, in der es das Wunderkind guthat, aufrechtzuerhalten. Der insgesamt negativen Stimmungslage passt sich Leitmayr etwas überambitioniert an: Zuerst stellt er übergriffige Fragen („Waren Sie eigentlich schon immer schwul oder hat sich das hier so ergeben?“), dann macht er den mehr als nur läuterungswilligen Scholz zu seinem Lieblingsfeind – und wirbelt bei der emotional angefassten Pflegefamilie unnötig Staub auf. Der Hintergrund: Leitmayr hat unter einem gewalttätigen Vater gelitten. Eine solche Information nach einer 33-jährigen „Tatort“-Biographie wirkt – besonders heute in Zeiten horizontalen Erzählens – einigermaßen befremdlich. Noch befremdlicher: dass Leitmayr Scholz den Satz „Menschen wie Sie ändern sich nicht“ ins Gesicht sagen muss. Dieser kontert bei seinem neuen Arbeitgeber mit einem ähnlich überflüssigen Herbert-Reinecker-Gedächtnissatz: „Wenn Ihr auch nur einmal in die Nähe meines Sohnes kommt, dann!“
Das testosterongeschwängerte Milieu färbt also nicht nur auf den Plot ab. Auch dramaturgisch und inszenatorisch hat Thomas Stiller schon feinsinniger gearbeitet. Gewalt und die erhöhte Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft sind seit Jahren seine Themen in Filmen wie „Tatort – Macht und Ohnmacht“ (2013), „Polizeiruf – Liebeswahn“ (2014) oder „Angst in meinem Kopf“ (2018), einem anderen Gefängnisfilm. Seine besten Arbeiten zeichnen sich aus durch Reduktion und Konzentration: wenige Figuren, klare Interaktion, coole Ästhetik. Paradebeispiele für diesen Stil sind das düstere TV-Drama „Sie hat es verdient“ (2010) um eine von Liv Lisa Fries gespielte Teenager-Mörderin und das Grimme-Preis-gekrönte tödliche Familiendrama „Unter dem Eis“ (Drehbuch, 2005). In seinem siebten „Tatort“ hat man anfangs den Eindruck, als ob nach 20 nicht ganz klischeefreien, jedoch sehr eindringlichen, ins Milieu einführenden Minuten der Whodunit Stillers Qualitäten ausbremsen würde. Einige Figuren weniger hätten dem Film sicher nicht geschadet. Mit dem Kampf um „Das Wunderkind“ bekommt der Film jedoch eine überzeugende emotional-tragische Ausrichtung. Wer so naiv die „Selbstheilung“ im Blick hat, kann bei Stiller nur scheitern. Auch wenn dem Filmemacher wichtig war, „diese Welt realistisch, glaubwürdig und in ihrer Härte zu zeigen“, so ist dieser „Tatort“ doch in erster Linie ein nie langweilender Genre-Krimi, der hoffentlich wenig mit dem deutschen Strafvollzug zu tun hat.
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