Es liegt in der Natur des Krimis, dass selbst undurchschaubare Geschichten am Ende oft sehr einfach wirken, wenn man die Lösung kennt. Die Herausforderung besteht darin, die Handlung so zu stricken, dass die Zuschauer diese Erkenntnis so spät wie möglich gewinnen. Die meisten Autoren sorgen deshalb für Ablenkungsmanöver und schicken ihre Ermittler in diverse Sackgassen. Wolfgang Stauch hat für sein Drehbuch zu „Anne und der Tod“, ein „Tatort“ aus Stuttgart, einen ganz anderen Weg genommen: Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) ahnen, dass sie ihr Ziel bereits erreicht haben, können das aber nicht beweisen, weil die Verdächtige auf sämtliche Vorhaltungen eine plausible Antwort hat. Der eigentliche Reiz des Films liegt jedoch in der dramaturgischen Konstruktion. Stauch und Regisseur Jens Wischnewski haben die Handlung in eine komplexe Erzählstruktur gebettet, die nicht zuletzt wegen der vielen Dialoge (oft auf Schwäbisch) eine hohe Konzentration erfordert: Der Film wechselt permanent und oft sogar mitten in einem Satz die zeitlichen Ebenen.
Das clever konstruierte Verwirrspiel beginnt bereits mit dem Auftakt, der eine wichtige Information vorenthält: Eine Frau führt ein paar private Telefonate. Erst als von einem Smartphone der irritierende Klingelton einer Eieruhr ertönt, wird klar, dass sie im Vernehmungsraum der Mordkommission sitzt. Das Klingeln gilt Bootz, der nun den Teebeutel aus seiner Tasse nimmt; eine nebensächliche Kleinigkeit, die knapp neunzig Minuten später jedoch belegt, mit wie viel Sorgfalt dieser Film konzipiert ist. Die Kommissare befragen die Altenpflegerin Anne Werner (Katharina Marie Schubert), weil einer ihrer Schutzbefohlenen zu Tode gekommen ist; sie beteuert jedoch, es müsse sich um ein „riesengroßes Missverständnis“ handeln. Kurze Einschübe unterstreichen ihre Glaubwürdigkeit: Die Ehefrau hat ihren pflegebedürftigen Mann wie in einem Gefängnis gehalten. Da Marie Anne Fliegel alte Frauen sehr oft und auch diesmal als Hausdrachen verkörpern muss, ist der Witwe ohne Weiteres zuzutrauen, dass sie den Gatten die Treppe runtergestoßen hat. Tatsächlich wäre die Polizei dem Fall womöglich gar nicht nachgegangen, hätte es nicht, wie der Film erst geraume Zeit später verrät, kurz zuvor einen weiteren Todesfall gegeben. Jetzt springt der Krimi noch weiter zurück: Herr Fuchs, ein äußerst unsympathischer Patriarch, liegt tot in seinem Bett, während die Angehörigen Hochzeit feiern. Der Mann litt unter den Folgen eines Schlaganfalls. Gestorben ist er, weil er ein lebenswichtiges Medikament nicht genommen hat, aber war es Mord oder Freitod? Stünde auf jedem Grab eines Mordopfers eine Kerze, sagt die junge Ärztin, die keine natürliche Todesursache attestieren wollte, „wären die Friedhöfe nachts hell erleuchtet.“ Trotzdem sind die Ermittlungen eingestellt worden: kein hinreichender Tatverdacht. Auch der „alte Fuchs“ gehörte zu den Patienten von Frau Werner, und Lannert macht sich Vorwürfe, weil das zweite Opfer womöglich noch leben könnte; vorausgesetzt, Werner ist tatsächlich ein Todesengel, der lebensmüde Patienten von ihrem Leid erlösen will.
Im gängigen Krimi sammeln Ermittler Informationen, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Bei guten Drehbüchern entsteht dieses Bild erst durch das letzte Puzzlestück. Weil gerade Redakteure mitunter dazu neigen, das Publikum zu unterschätzen, wird der Stand der Ermittlungen zwischendurch gern zusammengefasst. Dass ein Film das Bild im Kopf der Zuschauer entstehen lässt, ist eher die Ausnahme und setzt einen gewissen Anspruch voraus; deshalb ist dieser „Tatort“ ein ungewöhnlich intelligent gestalteter Krimi, dessen Reiz nicht zuletzt aus der Montage resultiert. Es ist letztlich nur eine Spielerei, wenn eine Figur den Satz beendet, den eine andere begonnen hat, aber ein weiterer Beleg dafür, wie einfallsreich und sorgfältig dieser Film konzipiert worden ist, denn selbst diese Sätze bergen Zeitsprünge: Wenn Staatsanwältin Alvarez (Carolina Vera) Lannert und Bootz über die Ergebnisse einer Obduktion unterrichtet, folgt die eigentliche Information in Form einer kurzen Rückblende mit dem Anruf des Rechtsmediziners. Diese Form des Dialogs gibt es öfter: Hier stellt jemand eine Frage, dort gibt jemand in einem völlig anderen Gespräch die Antwort. Auf diese Weise bekommt der Film dank des Schnitts (Barbara Brückner) eine Dynamik, die die Handlung im Grunde gar nicht hergibt, denn „Anne und der Tod“ ist über weite Strecken ein Kammerspiel. Nur einmal greift Wischnewski daneben, als auf Lannerts Feststellung, „Eher hackt sie sich die Hände ab“, ein Umschnitt auf Vater Werner beim Holzhacken erfolgt. Ansonsten passt der Krimi bestens zu den letzten „Tatort“-Episoden aus Stuttgart: Offenbar hat die Fernsehfilmredaktion des SWR den festen Vorsatz, immer wieder ganz besondere und stilistisch völlig unterschiedliche Filme zu produzieren; seit „HAL“ (2016) gab es mit „Stau“, „Der rote Schatten“ sowie zuletzt „Der Mann, der lügt“ (Grimme-Preis-nominiert) nur noch außergewöhnliche (und außergewöhnlich gute) Filme.
Das kühne Konstrukt steht und fällt mit der richtigen Hauptdarstellerin; und Katharina Marie Schubert entpuppt sich als vorzügliche Wahl. Sie verkörpert die Pflegerin als sympathische, leutselige und anscheinend völlig unbescholtene Frau, die ihre Arbeit mit Hingabe und Mitgefühl erledigt. Lannert vermutet, sie sei „auf dem Weg zur Kirche falsch abgebogen“, und tatsächlich wandelt sich das Bild, je mehr die Kommissare sie in die Enge treiben. Um Schubert herum haben der SWR und Wischnewski, der zuletzt die eher durchwachsenen Lissabon-Krimis „Dunkle Spuren“ und „Feuerteufel“ gedreht hat, ein treffend besetztes Ensemble gruppiert: Felix Eitner als „junger Fuchs“, Lina Wendel als Leiterin des Pflegedienstes sowie Hans Peter Hallwachs und Falk Rockstroh als weitere Patienten. Rockstroh kommt dabei eine Rolle zu, die Stauch und Werner offenbar besonders wichtig war, denn sein langer Monolog ist die einzige Szene des Films, die nicht unterbrochen wird.
Selbstverständlich lässt Stauch, der zuletzt zwei sehenswerte Episoden für den „Polizeiruf“ aus Madgeburg („Crash“, „Zehn Rosen“) sowie für den SWR die beiden Krimis „Emma nach Mitternacht“ (2016) geschrieben hat, nebenbei einfließen, wie überlastet die Pflegekräfte sind. Anne Werner ist zudem als alleinerziehende Mutter mit einem pubertierenden Sohn geschlagen, der gern auf größerem Fuß leben würde, als ihr mageres Einkommen zulässt. Die verschiedenen Wahrheiten, mit denen sie im Verlauf der Vernehmung scheibchenweise herausrückt, entlasten sie zwar nicht, taugen aber auch nicht als Beweis für den Mordverdacht; die Kommissare müssen sie daher gehen lassen. Kaum ist sie wieder frei, stirbt der nächste Patient, und das ist bei Weitem nicht die letzte Überraschung des Films. Der Arbeitstitel „Schande“ deutet ohnehin an, dass es noch eine völlig andere Erklärung für die Todesfälle geben könnte; und dann ist da ja noch die Sache mit der Eieruhr. (Text-Stand: 26.4.2019)