Wenn Linda Selb (Luise Wolfram) eine Leiche untersucht, geht sie gern nah ran. So nah, dass, wer ihr zuschaut, innerlich zurückzuckt. Mit dem Bild des furchtlosen Herantastens ist Selbs Charakter schon gut umrissen: Fein in der Erscheinung, hart im Nehmen. Diesmal schnüffelt die ekelbefreite Kommissarin am Pilzschaum vor dem Mund der toten Marlene Seifert. Die Umstände des Mordfalls erinnern an ein acht Jahre altes Verbrechen. Der damals verdächtige „Handymann“ ist für Selb auch diesmal der Täter. Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer), äußerlich ganz harter Brocken und das Gegenstück zu Selb, hegt da so ihre Zweifel. Zwei Ermittlungsstränge führen von nun an aus dem Wald der falschen Fährten heraus.
Wo Selb und Moormann zuvor in tristen Wohnblöcken und prekärem Milieu ermittelten, streifen sie in „Tatort – Angst im Dunkeln“ durch das feine Schwachhausen. Parallel dazu führen zeitliche Rücksprünge auf die Stunden vor der Tat immer wieder in den Wald. Sie beginnen 36 Stunden vor Marlene Seiferts Tod und zeigen drei Mütter, die sich von ihren fast erwachsenen Kindern mit verbundenen Augen in der Wildnis aussetzen lassen. Die Drei wollen ein Abenteuer testen, das ihre „Kinder“ bald danach bestehen sollen. In Zeiten von Navi-Apps, Helikopter-Eltern und Heranwachsenden, die nicht mehr wissen, wo die Sonne aufgeht, gilt „Dropping“ als pädagogisch wertvoll. Moormann verzieht den Mundwinkel und verdreht die Augen gen Himmel. Jasna Fritzi Bauer verlässt sich gern auf diese Kombination als vielsagendem Kommentar auf die Spinnereien der feinen Leute aus Schwachhausen. Eher nebenbei verrät der fünfte Fall: Auch Linda Selb wuchs in Bremens Villenviertel auf.
Die Rückblicke auf die Stunden vor der Tat sortieren das hierarchische Gefüge zwischen den drei Müttern und offenbaren, wie und warum es zwischen den Nachbarinnen ordentlich gärte. Parallel erhärten im Wald installierte Selbstauslöser-Kameras Selbs These von einem umherwandernden, mordenden Handymann. Das erste Gespräch mit dem Ehemann der Toten (Henning Baum) legt die toxisch enge Nachbarschaft der drei involvierten Paare offen und der Rücksprung zum Vorabend zeigt, dass nicht nur Klaus Seifert, sondern auch die Kinder in dieser Nacht im Wald waren. Für den Zuschauer ist allerdings schwer nachvollziehbar, dass dort, wo die einen orientierungslos im Kreis laufen, die anderen sofort den richtigen Pfad finden und dabei Geheimnissen auf die Spur kommen, die einen Mord motiviert haben könnten. Henning Baum alias Klaus Seifert taucht wie Kai aus der Kiste im Wald auf, ebenso fragwürdig erscheint, dass drei Teenager nichts Besseres zu tun haben als aus Sorge um ihre Mütter durch ein Sumpfgebiet zu spazieren. Leider hakt es in diesem Handlungsabschnitt auch bei den Dialogen. Sie sind in etwa so dürr wie die Äste unter den Sohlen der Waldläufer.
Nähe und Distanz, Machtdemonstration und Kräftemessen kommen besser bei der Begegnung von Selb und dem vermeintlichen Handymann Werner Behrens (Alexander Wüst) zum Tragen. Der lebt in einer dunklen Bude an der Weser, trägt Camouflage, sammelt Ameisen, und hat Haus und Grundstück mit Kameras verwanzt. Nicht gerade unverdächtig. Der Kommissarin kommt Behrens gefährlich nah. Sie widersteht und hält die Nähe aus. Mehr noch: Ein Hauch von Faszination hängt zwischen beiden in der Luft. Die Szene zwischen Wolfram und Wüst zählt zu den spannenderen Momenten des Falls. Sie erinnert auch daran, dass Regie-Debütantin Leah Striker von der Kamera kommt. Bildsprache beherrscht sie.
„Für die Figuren da zu sein“, so Striker, sei die große Offenbarung ihrer ersten „Tatort“-Regie gewesen. Das Ausfeilen und die Entwicklung der Figuren aber gelingen Autorin Kirsten Peters („Billy Kuckuck“, „Väter allein zu Haus“) und Regisseurin Leah Striker auch im weiteren Verlauf nur semi. Keine der Nebenfiguren entwickelt sich, keine wird interessanter als sie zu Anfang war und der Tod von Marlene Seifert rührt außer deren Tochter keinen an. Entsprechend kalt lässt der Fall dann auch den Zuschauer. Selb und Moormann beäugen die Ermittlungserfolge der jeweils anderen und bringen es gemeinsam zu Ende. Dass Moormanns Wutausbruch angesichts eines vermeidbaren Schusses ungehört verhallt, passt zu einem Fall, der den Betrachter eher mit einem Achselzucken statt Gänsehaut entlässt.