„Damit wir uns nicht missverstehen“, droht der Eine: „Ich bin erstens dazu in der Lage und zweitens dazu bereit, hunderte Quadratkilometer mitten in Europa für viele Generationen unbewohnbar zu machen!“ – „Das Projekt ist völlig risikofrei“, beschwichtigt der Andere. „Wir graben fünfhundert Meter tief. Können Sie sich vorstellen, wie tief das ist?!“ Hier wie dort geht es um die Gefahren der Kernenergie. Schon in den Expositionen der beiden Filme lässt sich das Großartige des Tandem-TV-Projektes ablesen: Hier wie dort haben sich Franzosen und Deutsche unter dem Dach von Arte zusammen getan, um sich über die Landesgrenzen und Fernsehgewohnheiten hinweg mit derselben Thematik zu befassen, die freilich hier (in Deutschland) komplett anders behandelt wird als dort (in Frankreich).
Foto: SWR / Petro Domenigg
In „Tag der Wahrheit“ steht ein ehemaliger Mitarbeiter des Kraftwerks im Mittelpunkt, der unter Umgehung der (typisch französisch!) lax gehandhabten Sicherheitsvorkehrungen mit einer MP, einer Zeitzünderbombe und einem perfekt (also typisch deutsch!) ausgearbeiteten Erpressungsplan in die Kontrollzentrale des Atomkraftwerks eindringt. Florian Lukas, den man in Frankreich wegen „Good bye, Lenin“ und in Deutschland wegen „Weißensee“ gut kennen kann, spielt seine Figur mit einer dem Stoff natürlich angemessenen Mischung aus brutaler und emotionaler Zielstrebigkeit. Die Deutschen haben das Thema Kernenergie nämlich (typisch…?!) als Endzeitthriller aufgegriffen. Über 90 Minuten hinweg rennen und recherchieren Polizei und Staatsanwalt gegen die Uhr, die eine tickende Zeitbombe ist: Wer ist dieser Eindringling? Was will er? Was macht er? Und vor allem: Wie können wir den allgegenwärtigen GAU verhindern? Bald stellt sich heraus, dass die Guten nicht nur gegen den Bösen kämpfen, sondern auch gegen höhere politische Kräfte, die das AKW gegen alle Sicherheitsbedenken seit Jahren am Netz halten. Und damit aus Gier riskieren, was der Bombenleger Kollwein den Kraftwerksbetreibern aus Wut androht: Hunderte Quadratkilometer mitten in Europa könnten für viele Generationen unbewohnbar werden.
Wie vergleichsweise beschaulich geht es dagegen in „Das gespaltene Dorf“ zu! Würde in dem verschlafenen Saint Lassou nicht die ehrgeizige deutsche Bürgermeisterin (Katja Riemann) das Zepter führen, wäre die Mission des eigens aus Paris angereisten Antoine Degas geradezu ein Kinderspiel. Er soll im Auftrag seiner „Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle“ den Bau eines atomaren Endlagers erkunden. Degas kann das Blaue vom Himmel versprechen: Arbeitsplätze! Infrastruktur! Aufschwung! Die Deutsche sagt in bestem Französisch „Non!“ Mit „Das gespaltene Dorf“ ist den Franzosen eine herrlich aufgeregt unaufgeregte Dorfkomödie gelungen, die vor allem vom amüsanten Zusammenspiel zwischen Laurant Stocker und Katja Riemann getragen ist. Augenzwinkernd haben die drei Autoren das Binationale ihres Stoffes aufgegriffen. Da pinselt die Bürgermeisterin zum Beispiel in dem trostlos verwaisten Örtchen akribisch die Markierungen für einen Fahrradweg auf den Asphalt. Die alte Adèle (als Gast: Claude Gensac, die man in den Filmen von Louis de Funes als dessen hochgewachsene Ehefrau kennen kann) wettert derweil eifrig und ungebrochen gegen die Deutschen, die während des Krieges ihre Pension beschlagnahmt hatten – weswegen Madame bis heute keine Zimmer an die teutonischen „Boche“ vermietet.
Foto: Arte France / David Koskas
Es muss einen diebischen Spaß gemacht haben, in der deutsch-französischen Kooperation die Stoffe zu entwickeln und dabei nach Herzens Lust das Hüben und Drüben zu thematisieren. Zu den strikten (typisch deutschen?) Spielregeln gehörte es, dass sich beide Filmteams jeweils die Endfassungen ihrer Drehbücher und vor allem die Besetzungslisten vorlegten. Auch sollten je zwei Schauspieler in beiden Filmen zu sehen sein. Alles Ballast, den man sich getrost hätte schenken können, zumal die Deutschen sich mit Katja Riemann leider nicht anfreunden konnten, und ohnehin die Darsteller ihre Figuren nicht in den zweiten Film mitnehmen sollten. So löst sich die eher lockere Verbindung über die „Gesichter“ weder dramaturgisch noch emotional ein. Während Laurant Stocker im Thriller eine eher blasse Nebenrolle als Stichwort gebender Sicherheitschef übernimmt, ist Vicky Krieps hier als die integere deutsche Staatsanwältin der treibende Motor des Thrillers. Umgekehrt muss die Luxemburgerin in „Das gespaltene Dorf“ als Geologin über Gesteinsschichten und Bohrtiefen referieren und wirkt in ihrem Schauspieltalent genauso unterfordert wie Laurant Stocker in „Tag der Wahrheit“.
Was immer die Redaktionen, Produzenten, Autoren und Regisseure in den deutsch-französischen Absprachen auch besprochen haben mögen: Herausgekommen sind zwei gut gemachte, von ihren Regisseuren auffallend genretreue Fernsehfilme, die für sich genommen über das Normalnull des nationalen Filmwesens nicht allzu weit herausragen. Die Komödie ist schließlich so sehr DAS Sujet der Franzosen wie das gesellschaftskritische Planspiel das der Deutschen. Der ganz große Spaß am Tandem-Projekt beginnt für den Zuschauer eigentlich erst, wenn man beide Filme direkt hintereinander sehen kann. Was aber wie zwei Seiten einer Medaille entwickelt wurde, wird weder bei Arte noch im Ersten am gleichen Tag ausgestrahlt. So geht etwas von der Größe des Konzeptes verloren, das von viel Transparenz, Souveränität und nationaler Selbsteinsicht getragen ist. Für solche Projekte wurde einst Arte gegründet. Weiter so, möchte man typisch deutsch sagen, und nicht aufgeben. (Text-Stand: 25.12.2014)
Foto: Arte France / David Koskas