Ein Morgen im Böhmischen Prater. Ein Arbeiter ist mit dem Laubsauger unterwegs, sieht nur noch wie ein Mann eine Frau mit einer Waffe bedroht, in ein Lokal drängt und die Tür verriegelt. Kurz darauf ist die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort, umstellt das Lokal mit dem schönen Namen „Südpol“. Der Geiselnehmer hat keine Forderungen, reagiert nicht auf Anrufe. Da taucht der junge Mario (Laurence Rupp) auf, er wollte seine Freundin, die Kellnerin Ella (Lili Epply) abholen. Bald wird klar, sie ist die Geisel. Dann fällt im Lokal ein Schuss, der Mann zeigt sich an der Tür, Ella zieht ihn wieder zurück ins „Südpol“. Zwanzig Minuten dauert diese Filmeröffnung, man fühlt sich wie in einem Thriller, weiß nichts über den Täter, nichts über die Geisel. Als Zuschauer ist man auf dem Kenntnisstand der Polizei, fiebert mit, was da im Lokal geschieht. Das ist atmosphärisch dicht und packend inszeniert.
Dann folgt ein Zeitsprung, es geht drei Wochen zurück. Mittvierziger Hans Wallentin (Juergen Maurer) hat einen super Job im mittleren Management, er hat Karriere gemacht, hat ein schmuckes Haus, eine attraktive Frau und eine funktionierende Familie. Doch von heute auf morgen verliert er seinen Job und damit den Halt und den Sinn in seinem Leben. Seiner Frau Sandra (Caroline Peters) verschweigt er das mit großem Aufwand. Als sie davon erfährt und ihn zur Rede stellt, hat er ihr nichts mehr zu sagen, packt seinen Koffer und zieht ins Hotel. Das noble Hotelzimmer demoliert er, fliegt raus und mietet sich in einer Pension ein. Tags darauf reicht er die Scheidung ein, will auf alles verzichten: Geld, Haus, Auto und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn. Dann zieht er durch die Stadt und strandet in jenem Lokal eines Vergnügungsparks am Rande Wiens. Dort lernt er die junge Kellnerin Ella (Lili Epply) kennen – und fühlt sich endlich mal wieder von jemandem wirklich verstanden. In der Folge kommt Hans öfter, trinkt Wein, plaudert mit Ella. Und immer mehr wird ihm bewusst: sein altes Leben muss er komplett über Bord werfen, um ein neues beginnen zu können.
Foto: ORF, BR / Petro Domenigg
Nach einer Stunde endet die Rückblende und mündet in das Anfangsbild, als Hans Ella in das Lokal drängt. Dann wird die Geschichte der Geiselnahme erzählt – aber aus einer anderen Perspektive. So wird aus dem anfänglichen Thriller, aus dem sich eine Art gesellschaftliches Absturz-Drama entwickelt, ein intensives Kammerspiel. Nikolaus Leytner hat „Südpol“ geschrieben und inszeniert. Leytner ist hochdekoriert für Filme wie „Ein halbes Leben“ (Grimme-Preis) und „Die Auslöschung“ und hat im vergangenen Jahr eindrucksvoll den Robert Seethaler-Roman „Der Trafikant“ verfilmt. Mit „Südpol“ ist ihm eine überraschende, aufregende und tiefsinnige Geschichte über das Leben gelungen. Der Autor und Regisseur nähert sich diesem Menschen in höchster seelischer Not mit einem sensiblen, mitfühlenden Blick, wie er es auch in „Ein halbes Leben“ (mit Josef Hader als Vergewaltiger und fürsorglicher Vater) und im Alzheimer-Drama „Die Auslöschung“ (mit Klaus Maria Brandauer) getan hat. Aber nicht nur dieser Hans ist ein Sinnsuchender, muss Entscheidungen über sein Leben treffen. Auch Ella, die mit ihrer offenen Art und ihrer Natürlichkeit bei ihm neue Lebensgeister weckt, ihm zuhört und ihn verzaubert, steckt in einer Sinnkrise. Sie hat einen tollen Job in Südamerika in Aussicht, doch sie ist schwanger. Was tun?
„Südpol“ ist ein Film, der einem zeigt, was in unserem schnellgetakteten Leben abhanden gekommen ist. Die Neugierde auf Begegnungen, sich dadurch verändern zu lassen und sich so auch wieder selbst zu finden. Ein Mann, der sich nur über die Arbeit definiert, ist im freien Fall, will diesen stoppen und landet an einem Ort, den er aus Kindheitstagen kennt, den Böhmischen Prater, und in einem einfachen Lokal, das für eine Welt steht, die er lange gemieden hat. Wie er und Ella sich, nachdem sich ihre Lebenswege kreuzen, aneinander abarbeiten, ist intensiv, spannend und emotional. Vor allem diese letzte halbe Stunde hat es in sich. Hervorragend gebaut aber ist die gesamte Geschichte: der Perspektivwechsel und die Art und Weise, wie Leytner Vergangenheit und Gegenwart ineinander fließen lässt. Und mit Juergen Maurer und Lili Epply hat er zwei starke Schauspieler. Maurer, lange Zeit der Mann in der zweiten Reihe, hat sich längst schon in die erste Film-Liga gespielt („Harri Pinter, Drecksau“). Mit welcher Ruhe, Kraft und Präzision er diesen Mann in der Lebenskrise, der quasi aus Versehen zum Geiselnehmer wird, verkörpert, das ist beeindruckend. Wenn er im „Südpol“ sitzt, über Kopfhörer Bach hört, sich treiben lässt und dann mit leiser Stimme Kontakt zu Ella aufnimmt, ist das auf den Punkt gespielt. Und Lili Epply, die ihre Filmkarriere mit einer Rolle als Snowboarderin im „James Bond 007 – Spectre“ begann, im Psychothriller „Mein Fleisch und Blut“ ihre erste Hauptrolle spielte und im Vorjahr bei der Romyverleihung als beste Nachwuchsschauspielerin der Alpenrepublik ausgezeichnet wurde, gibt dieser Ella eine wunderbare Mischung aus Unbekümmertheit, Charme und Nachdenklichkeit.
Foto: ORF, BR / Petro Domenigg