Südpol

Juergen Maurer, Epply, Rupp, Weisz, Peters, Nikolaus Leytner. Sinnkrise mit Folgen

Foto: ORF, BR / Petro Domenigg
Foto Volker Bergmeister

Ein Mensch wird aus der Bahn geworfen, begeht eine Verzweiflungstat und so sind plötzlich zwei Menschen miteinander eingesperrt und aufeinander angewiesen. Mit dem Drama „Südpol“ (BR/ORF – Allegro Film) ist Nikolaus Leytner eine überraschende, aufregende und tiefsinnige Geschichte über das Leben gelungen. Der Autor und Regisseur nähert sich mit einem mitfühlenden Blick dem Mittvierziger Hans, der spontan zu einem Geiselnehmer wird, und der schwangeren Kellner Ella, die in seine Gewalt gerät. Wie Leytner diese Geschichte aufbaut und erzählt, wie er den Perspektivwechsel vollzieht, Vergangenheit & Gegenwart klug ineinander fließen lässt, das ist große Filmkunst. Und Juergen Maurer und Lili Epply machen mit ihrem intensiven, nuancierten Spiel den Film absolut sehenswert.

Ein Morgen im Böhmischen Prater. Ein Arbeiter ist mit dem Laubsauger unterwegs, sieht nur noch wie ein Mann eine Frau mit einer Waffe bedroht, in ein Lokal drängt und die Tür verriegelt. Kurz darauf ist die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort, umstellt das Lokal mit dem schönen Namen „Südpol“. Der Geiselnehmer hat keine Forderungen, reagiert nicht auf Anrufe. Da taucht der junge Mario (Laurence Rupp) auf, er wollte seine Freundin, die Kellnerin Ella (Lili Epply) abholen. Bald wird klar, sie ist die Geisel. Dann fällt im Lokal ein Schuss, der Mann zeigt sich an der Tür, Ella zieht ihn wieder zurück ins „Südpol“. Zwanzig Minuten dauert diese Filmeröffnung, man fühlt sich wie in einem Thriller, weiß nichts über den Täter, nichts über die Geisel. Als Zuschauer ist man auf dem Kenntnisstand der Polizei, fiebert mit, was da im Lokal geschieht. Das ist atmosphärisch dicht und packend inszeniert.

Dann folgt ein Zeitsprung, es geht drei Wochen zurück. Mittvierziger Hans Wallentin (Juergen Maurer) hat einen super Job im mittleren Management, er hat Karriere gemacht, hat ein schmuckes Haus, eine attraktive Frau und eine funktionierende Familie. Doch von heute auf morgen verliert er seinen Job und damit den Halt und den Sinn in seinem Leben. Seiner Frau Sandra (Caroline Peters) verschweigt er das mit großem Aufwand. Als sie davon erfährt und ihn zur Rede stellt, hat er ihr nichts mehr zu sagen, packt seinen Koffer und zieht ins Hotel. Das noble Hotelzimmer demoliert er, fliegt raus und mietet sich in einer Pension ein. Tags darauf reicht er die Scheidung ein, will auf alles verzichten: Geld, Haus, Auto und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn. Dann zieht er durch die Stadt und strandet in jenem Lokal eines Vergnügungsparks am Rande Wiens. Dort lernt er die junge Kellnerin Ella (Lili Epply) kennen – und fühlt sich endlich mal wieder von jemandem wirklich verstanden. In der Folge kommt Hans öfter, trinkt Wein, plaudert mit Ella. Und immer mehr wird ihm bewusst: sein altes Leben muss er komplett über Bord werfen, um ein neues beginnen zu können.

SüdpolFoto: ORF, BR / Petro Domenigg
Was als vermeintlicher Thriller beginnt, wird zum top besetzten Drama einer Lebenskrise. Nach ihrem Nachwuchs-ROMY 2019 in aller Munde: Lili Epply. Juergen Maurer, ein gern gesehener Gast auf deutschen Bildschirmen

Nach einer Stunde endet die Rückblende und mündet in das Anfangsbild, als Hans Ella in das Lokal drängt. Dann wird die Geschichte der Geiselnahme erzählt – aber aus einer anderen Perspektive. So wird aus dem anfänglichen Thriller, aus dem sich eine Art gesellschaftliches Absturz-Drama entwickelt, ein intensives Kammerspiel. Nikolaus Leytner hat „Südpol“ geschrieben und inszeniert. Leytner ist hochdekoriert für Filme wie „Ein halbes Leben“ (Grimme-Preis) und „Die Auslöschung“ und hat im vergangenen Jahr eindrucksvoll den Robert Seethaler-Roman „Der Trafikant“ verfilmt. Mit „Südpol“ ist ihm eine überraschende, aufregende und tiefsinnige Geschichte über das Leben gelungen. Der Autor und Regisseur nähert sich diesem Menschen in höchster seelischer Not mit einem sensiblen, mitfühlenden Blick, wie er es auch in „Ein halbes Leben“ (mit Josef Hader als Vergewaltiger und fürsorglicher Vater) und im Alzheimer-Drama „Die Auslöschung“ (mit Klaus Maria Brandauer) getan hat. Aber nicht nur dieser Hans ist ein Sinnsuchender, muss Entscheidungen über sein Leben treffen. Auch Ella, die mit ihrer offenen Art und ihrer Natürlichkeit bei ihm neue Lebensgeister weckt, ihm zuhört und ihn verzaubert, steckt in einer Sinnkrise. Sie hat einen tollen Job in Südamerika in Aussicht, doch sie ist schwanger. Was tun?

„Südpol“ ist ein Film, der einem zeigt, was in unserem schnellgetakteten Leben abhanden gekommen ist. Die Neugierde auf Begegnungen, sich dadurch verändern zu lassen und sich so auch wieder selbst zu finden. Ein Mann, der sich nur über die Arbeit definiert, ist im freien Fall, will diesen stoppen und landet an einem Ort, den er aus Kindheitstagen kennt, den Böhmischen Prater, und in einem einfachen Lokal, das für eine Welt steht, die er lange gemieden hat. Wie er und Ella sich, nachdem sich ihre Lebenswege kreuzen, aneinander abarbeiten, ist intensiv, spannend und emotional. Vor allem diese letzte halbe Stunde hat es in sich. Hervorragend gebaut aber ist die gesamte Geschichte: der Perspektivwechsel und die Art und Weise, wie Leytner Vergangenheit und Gegenwart ineinander fließen lässt. Und mit Juergen Maurer und Lili Epply hat er zwei starke Schauspieler. Maurer, lange Zeit der Mann in der zweiten Reihe, hat sich längst schon in die erste Film-Liga gespielt („Harri Pinter, Drecksau“). Mit welcher Ruhe, Kraft und Präzision er diesen Mann in der Lebenskrise, der quasi aus Versehen zum Geiselnehmer wird, verkörpert, das ist beeindruckend. Wenn er im „Südpol“ sitzt, über Kopfhörer Bach hört, sich treiben lässt und dann mit leiser Stimme Kontakt zu Ella aufnimmt, ist das auf den Punkt gespielt. Und Lili Epply, die ihre Filmkarriere mit einer Rolle als Snowboarderin im „James Bond 007 – Spectre“ begann, im Psychothriller „Mein Fleisch und Blut“ ihre erste Hauptrolle spielte und im Vorjahr bei der Romyverleihung als beste Nachwuchsschauspielerin der Alpenrepublik ausgezeichnet wurde, gibt dieser Ella eine wunderbare Mischung aus Unbekümmertheit, Charme und Nachdenklichkeit.

SüdpolFoto: ORF, BR / Petro Domenigg
So schnell kann es gehen: Vor Kurzem hatte der Ex-Manager Hans Wallentin sein Leben noch im Griff. Mit Ruhe, Kraft und Präzision: Juergen Maurer gewohnt stark!

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

BR, ORF

Mit Juergen Maurer, Lili Epply, Laurence Rupp, Franziska Weisz, Dominik Warta, Susanne Wuest, Caroline Peters, Nikolai Horwarth, Oliver Stokowski, Michael Fuith, Astrit Alihajdaraj, Angelika Strahser

Kamera: Hermann Dunzendorfer

Szenenbild: Maria Gruber

Kostüm: Caterina Czepek

Schnitt: Bettina Mazakarini

Musik: Matthias Weber

Redaktion: Dr. Klaus Lintschinger (ORF), Anke Ferlemann (BR)

Produktionsfirma: Allegro Film

Produktion: Helmut Grasser

Drehbuch: Nikolaus Leytner – nach einer Idee von Götz Spielmann und Nikolaus Leytner

Regie: Nikolaus Leytner

Quote: 2,59 Mio. Zuschauer (8,6% MA)

EA: 11.03.2020 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach