Wenn Filmeltern mit wachsender Verzweiflung nach ihren verschwundenen erwachsenen Kindern suchen, dann meist in Krisen- oder Kriegsgebieten, wie etwa in dem Drama „Für meine Tochter“ (2018, ZDF) mit Dietmar Bär als Witwer, der in den vom „Islamischen Staat“ kontrollierten Teil Syriens reist, um seine in der Flüchtlingshilfe engagierten Tochter zu retten. Mit „Spurlos in Athen“ erzählen Gernot Krää (Buch) und Roland Suso Richter eine ganz ähnliche und doch völlig andere Geschichte, die sich zudem im Herzen einer EU-Metropole zuträgt. Das Duo hat bereits bei „Spurlos in Marseille“ (2020, ARD) zusammengearbeitet. In dem Thriller sah sich ein braver Hausmann nach dem Verschwinden seiner Frau mit mächtigen Gegnern konfrontiert. Der Freiburger Jugendrichterin Marlene Neubach (Silke Bodenbender) ergeht es nicht anders, aber das kann sie zunächst nicht ahnen, als sie für ein paar Tage bei ihrem Sohn vorbeischauen will. Jakob (Tom Gronau) ist für ein Erasmus-Jahr in der griechischen Hauptstadt; auf den mütterlichen Besuch scheint er allerdings nicht sonderlich erpicht zu sein. Als er zum vereinbarten Zeitpunkt nicht auftaucht und auch telefonisch nicht zu erreichen ist, macht sich Marlene verständlicherweise Sorgen, zumal sich herausstellt, dass er schon seit Monaten nicht mehr an der Uni war. Endlich kommt ein Telefongespräch zustande, doch es meldet sich nicht Jakob, sondern ein Kommissar Vergas (Kostas Antalopoulos), der sie bittet, ins Präsidium zu kommen. Natürlich rechnet sie mit dem Schlimmsten, und tatsächlich soll sie einen toten jungen Mann als ihren Sohn identifizieren. Es handelt sich zum Glück um einen Fremden, aber Jakob bleibt verschwunden.
Silke Bodenbender ist genau die richtige Besetzung für diese Rolle, zumal Richter auf Proben verzichtet und seiner Hauptdarstellerin Raum für Improvisation gelassen hat; das lässt die entsprechenden Szenen noch authentischer wirken. Krää führt die Heldin als Frau ein, die in ihren Verhandlungen Respekt vor dem Gesetz fordert; im Verlauf der Suche nach ihrem Sohn wird sie bis hin zur Vernichtung von Beweismitteln ein Gesetz nach dem anderen übertreten, wobei sie jedes Mal den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches vor sich hin murmelt. Wie der nicht minder unfreiwillige Held aus „Spurlos in Marseille“ muss sie Herausforderungen bewältigen, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordern, denn sie gerät mitten hinein in eine Auseinandersetzung zwischen zwei Geheimdiensten; und beide Seiten sind ohne Skrupel bereit, für ihre Ziele über Leichen zu gehen.
Aus diesem Stoff hätte auch leicht eine Räuberpistole werden können, aber Krää bettet die Handlung sehr plausibel in einen aktuellen Rahmen: Jakob hat sich mit seiner Freundin Eleni (Chara Mata Giannatou, eine Enkelin von Harald Leipnitz) einer Gruppe angeschlossen, die im Namen von Nemesis, der griechischen Göttin des gerechten Zorns, Korruption und soziale Ungerechtigkeit anprangert. Die Untergrundorganisation will nicht tatenlos dabei zusehen, wie an der Außengrenze der EU Flüchtlingsboote zurück aufs offene Meer getrieben werden, doch die jungen Leute sind längst zum Spielball ganz anderer Interessen geworden. Bei einem heimlichen Treffen beschwört Jakob seine Mutter, allen und jedem zu misstrauen. Tatsächlich ist keiner der Beteiligten der, der er zu sein vorgibt; auch nicht der hilfsbereite Anwalt Alexandros (Yousef Sweid), dem sich Marlene Jakobs Warnung zum Trotz anvertraut.
Neben der durchgehend fesselnden ereignisreichen Handlung beeindruckt „Spurlos in Athen“ vor allem durch die Inszenierung. Richters Filme sind optisch ohnehin stets herausragend, nur wenige Regisseure haben hierzulande eine derart ausgeprägte Freude an ausgefallener Visualisierung, weshalb die Anmutung seiner Filme stets sehr hochwertig ist. Mit Kameramann Andrés Marder hat er bereits bei einigen Episoden der Reihen „Die Diplomatin“ und „Der Zürich-Krimi“ zusammengearbeitet, beide wie auch „Spurlos in Marseille“ ebenfalls Produktionen für die ARD- Degeto. Natürlich findet sich aller Turbulenz zum Trotz Zeit für einige Sehenswürdigkeiten Athens, aber die entsprechenden Impressionen sind geschickt integriert; anders als in anderen Auslandsproduktionen bedarf es dafür keiner Stadtrundfahrt der Hauptfigur. Auch die häufigen und zum Teil sehr dynamischen Drohneneinsätze sind nicht bloß Spielerei, denn sie verdeutlichen das schier aussichtslose Unterfangen der Mutter, ihren Sohn ohne jeden Anhaltspunkt zu finden. Die ständigen Schauplatzwechsel und die vielen Außenaufnahmen, die logistisch sicher nicht immer einfach zu realisieren waren, zeigen ein überaus facettenreiches Bild von Athen und lassen die Produktion sehr aufwändig aussehen.
Dazu tragen auch die rasanten Actionszenen bei. Den Auftakt in dieser Hinsicht bildet ein Polizeieinsatz, der früh verdeutlicht, wie brutal die Behörden gegen die „Nemesis“-Mitglieder vorgehen. Später folgen noch einige Verfolgungsjagden, bei denen Richter alle Register zieht; die buchstäblich vielschichtige Thrillermusik (Andrej Melita), die mitunter mehrere Motive übereinander legt und klug durch einheimische Popsongs sowie elektronische Stücke ergänzt worden ist, trägt ihren Teil dazu bei, dass „Spurlos in Athen“ ausgesprochen temporeich ist. Schade, dass die Geschichte etwas plötzlich zum Schluss kommt, die Handlung hätte auch gut und gern 120 Minuten getragen. Man denkt darüber nach, den Regisseur mit weiteren „Spurlos“-Filmen zu beauftragen, aber das hängt wie immer vom Zuspruch des Publikums ab.