Simpel

Frederick Lau, David Kross, Ahner, Markus Goller. Vater ist auf „Geschäftsverreise“

Foto: ZDF / Gordon Timpen
Foto Tilmann P. Gangloff

Es ist ein Rätsel, warum das ZDF diese wunderbare und nicht nur von den beiden Hauptdarstellern ganz großartig gespielte Tragikomödie erst um 23.15 Uhr zeigt. „Simpel“ (Letterbox) erzählt die Geschichte eines ungleichen Brüderpaars, das in einer Art Symbiose miteinander verbunden ist: Schon sein ganzes Leben lang hat sich Ben für seinen geistig behinderten Bruder, genannt Simpel, verantwortlich gefühlt. Nach dem Tod der Mutter soll Simpel ins Heim. Verhindern kann dies allein der Vater, den die beiden seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben; und nun beginnt eine abenteuerliche Reise, in deren Verlauf die Brüder neue Freunde finden. Markus Gollers geradezu verschwenderisch gut besetzter Film ist zwischendurch auch mal dramatisch, aber unterm Strich von ansteckender Lebensfreude.

Was für eine schöne Geschichte! Und was für eine Verschwendung, dass das ZDF diesen wunderbaren Brüderfilm nicht bereits um 20.15 Uhr zeigt. „Simpel“ ist eine Tragikomödie mit Frederick Lau und David Kross als ungleiches friesisches Brüderpaar. Ben (Lau) kümmert sich schon sein Leben lang liebevoll um den geistig behinderten Barnabas (Kross), genannt Simpel: ein 22 Jahre altes großes Kind, das regelmäßig Zwiegespräche mit seinem Kuscheltier Monsieur Hasehase führt, aber der reinste Sonnenschein ist, so lange bestimmte Rituale eingehalten werden. Als die Mutter stirbt, soll Simpel, der rund um die Uhr betreut werden muss, in ein Heim, doch der Abschied zerreißt den Brüdern das Herz; also kapert Ben kurzerhand den Polizeitransporter. Die beiden machen sich, die Polizei im Nacken, auf den Weg nach Hamburg, um ihren Vater zu suchen. Der Mann ist auf „Geschäftsverreise“, wie Simpel sagt: Er hat die Familie verlassen, als die Jungs noch klein waren, kann aber als einziger die Heimeinweisung rückgängig machen; und nun beginnt ein Abenteuer, in dessen Verlauf die Brüder viele neue Freunde finden, aber auch eine bittere Enttäuschung erleben.

Markus Goller hat sich mit Kinokomödien wie „Friendship!“, „Eine ganz heiße Nummer“ oder „Frau Ella“ in der Riege jener Regisseure etabliert, für die selbst große Schauspieler auch mal nur durchs Bild laufen; Anneke Kim Sarnau zum Beispiel wirkt in der Rolle der Mutter quasi bloß als Leiche mit. Sichtlich großen Spaß hat auch Annette Frier als Prostituierte mit Herz: Ben engagiert die Frau vorübergehend als Babysitter. Sie nimmt Simpel kurzerhand mit in ihr Etablissement, wo die Kolleginnen viel Spaß mit ihm haben; einzig der Chef ist alles andere als amüsiert. Das Drehbuch von Dirk Ahner (er hat auch „Frau Ella“ geschrieben) basiert auf dem gleichnamigen Roman der Französin Marie-Aude Murail, aber im Grunde haben Buch und Film kaum mehr als die Konstellation des Brüderpaars gemeinsam. Im Roman ist Simpel der Ältere und die eindeutige Hauptfigur. Die beiden ziehen in eine Pariser WG, wo er schließlich zwei Liebende zusammenbringt.

SimpelFoto: ZDF / Gordon Timpen
Die Brüder. Abschied mit einer Spur von schlechtem Gewissen. Frederick Lau & David Kross

„Simpel“ ist kein einfacher Film. Er besticht durch Schattierungen und hat sogar noch einen dritten Hauptdarsteller, der sich zwar erst nach einer guten halben Stunde ins Bild mogelt, aber dann sehr präsent ist: die Stadt Hamburg. Von ein paar Luftbildern der glitzernden Metropole bei Nacht abgesehen, dient die Großstadt nicht als Traumkulisse, sondern als Auslöser für die innere Entwicklung der Figuren. Die rastlosen Hochbahnen, das Treiben auf der Fruchtallee, im Schanzenviertel und auf St. Pauli, das alles kann Angst machen, aber auch neue Lebenswege aufzeigen. Je tiefer die Helden in die Topografie der Stadt vordringen, desto weiter wird ihr Horizont. Weiter als zu Beginn in der Weite des Watts. Wie weit genau, das muss man sich anschauen. (DIE ZEIT)

Markus Goller hat den gleichnamigen Jugendroman der Französin Marie-Aude Murail als bewegende Tragikomödie inszeniert, die alle Fragen von Verantwortung, Pflichtgefühl, Familie und Freundschaft aufgreift. (…) Das alles kommt natürlich nicht ohne eine gewisse Behindertenromantik und das eine oder andere Klischee aus. Simpels liebenswerte Kindlichkeit entwaffnet und führt zu urkomischen und rührenden Situationen, etwa wenn er, stets mit seinem Stofftier ­Hasehase im Schlepptau, auf einem Spielplatz ein behindertes Mädchen trifft und sich mit ihm anfreundet. Aber auch das liebevolle, fast allzu aufopfernde Kümmern Bens zerreißt einem so manches Mal das Herz. Ein Film, der viele menschliche Gefühle anspricht und daher berührt. (epd film)

Feel-Good-Filme waren schon zu oft die, die viel wollen und wenig können. Aber es ist weiß Gott nicht so, dass „Simpel“ nichts kann. Er schafft anrührende Szenen, führt die wechselseitige Abhängigkeit von Familienmitgliedern vor, birgt komische und tragikomische Momente. (…) Daneben stören aber auch einige irgendwie verschenkte Szenen, Simpels Eindringen in die Familie seines leiblichen Vaters etwa. Man geht emotional nicht gerade erschüttert, ergriffen, geläutert aus dem Kino. Dafür nämlich ist dieser Film dann irgendwie doch zu lau, namentlich die Figur, die Lau verkörpert. Alles, was Simpel begegnet, fügt sich ein bisschen zu wohlgefällig ins sozialpädagogisch Gute. Vielleicht, ahnt man, ist die Realität doch ein bisschen weniger simpel als „Simpel“. (DIE WELT)

SimpelFoto: ZDF / Gordon Timpen
Spaß im Watt. Ein Film, der viele menschliche Gefühle anspricht und berührt. Frederick Lau, David Kross

Die Mitbewohner wirken in Ahners Geschichte zwar ebenfalls mit, aber unter ganz anderen Umständen: Auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit lernen Ben und Simpel die schöne Medizinstudentin Aria (Emilia Schüle) und den Sanitäter Enzo (Axel Stein) kennen. Sie nehmen die Brüder mit nach Hamburg und erweisen sich als Freunde in der Not, denn natürlich kommt es zu verschiedenen Zwischenfällen: Als Ben ihn allein in Arias Wohnung zurücklässt, fackelt Simpel versehentlich die Küche ab. Später kommt es auf einem Bahnsteig zu bösen Vorwürfen: Ben erkennt, dass er keinen Plan B hat, und lässt seine Wut am Bruder aus; der steigt in einen Zug und verschwindet. Obwohl Ahner den Film episodisch konzipiert hat, entsteht ein sehr harmonischer Handlungsfluss, zumal die Brüder nicht auf der Flucht sind, sondern ein konkretes Ziel haben: Der Vater (Devid Striesow) freut sich ehrlich, Ben wiederzusehen; aber mit Barnabas will er nichts zu tun haben.

Bei Gollers früheren Komödien und seinem letzten Werk, „25 km/h“, lag die Zahl der Besucher zum Teil deutlich über einer Million; gemessen daran war der Erfolg von „Simpel“ (2017) überschaubar. Der Film ist eine Kinokoproduktion des ZDF, wirkt optisch jedoch ein bisschen sparsam. Dafür ist es eine umso größere Freude, den Schauspielern zuzuschauen. Gerade die Szenen mit Frederick Lau und David Kross sind von einer liebevollen Innigkeit, weshalb der Bahnsteigstreit umso schmerzlicher ist. Darstellungen von geistiger Behinderung sind immer eine Gratwanderung, aber Kross spielt das sehr berührend. Sympathischerweise machen Ahner und Goller keine große Sache daraus, dass Ben seinen Bruder genauso dringend braucht wie der ihn: Simpel war bislang seine Ausrede dafür, sich nicht dem Leben stellen zu müssen.

In tollkühner Großzügigkeit verzichtet der Film zudem auf eine Romanze, obwohl sich vermutlich zumindest jeder männliche Zuschauer dank Emilia Schüle umgehend in Aria verlieben wird; erst ganz am Schluss gibt es eine zarte Andeutung, dass sie für Ben mehr sein könnte als bloß eine gute Freundin. „Simpel“ ist dank der zwar auch mal melancholischen, ansonsten aber gute Laune verbreitenden Musik (Andrej Melita) ohnehin von einer ansteckenden Lebensfreude, und das nicht nur zu Beginn, wenn die Brüder ausgelassen durchs Watt tanzen. Einige Szenen sind so schön, dass es fast weh tut, etwa als Simpel von Enzo lernt, dass man zum Pinkeln kein Klo braucht, oder als Enzo und Aria gemeinsam den Stoffhasen operieren. Die OP ist der befreiende Schlusspunkt eines virtuos seine Vorzeichen wechselnden Films, der überwiegend fröhlich, aber spätestens gegen Ende auch spannend und dramatisch ist.

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Kinofilm

ZDF

Mit Frederick Lau, David Kross, Emilia Schüle, Axel Stein, Devid Striesow, Annette Frier, Maxim Kovalevski, Tim Wilde, Claudia Mehnert, Anneke Kim Sarnau, Ludger Pistor

Kamera: Ueli Steiger

Szenenbild: Zazie Knepper

Kostüm: Ramona Klinikowski

Schnitt: Tina Freitag, Markus Goller

Musik: Andrej Melita

Soundtrack: Ben Howard („Keep Your Head Up“, Abspannlied)

Redaktion: Caroline von Senden, Alexandra Staib

Produktionsfirma: Letterbox Filmproduktion

Produktion: Michael Lehmann

Drehbuch: Dirk Ahner – Romanvorlage: Marie-Aude Murail

Regie: Markus Goller

EA: 30.07.2020 23:15 Uhr | ZDF

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