Reiterhof Wildenstein – Die Pferdeflüsterin / Kampf um Jacomo

Klara Deutschmann, Shenja Lacher, Stoll, Naefe. Gutshof-Kitsch oder hohe Kunst?

Foto: Degeto / Hendrik Heiden
Foto Rainer Tittelbach

Wer Filme nur als Summe seiner Handlungsteile versteht, der könnte bei der Bewertung von „Reiterhof Wildenstein“ (Neue Bioskop Television) leicht falsch liegen. In der neuen ARD-Reihe wird keine Erzählstereotype seichter Reiterhofserien und Familiendynastie-Soaps ausgelassen – und doch besitzen die ersten beiden Episoden einen besonderen Reiz. Und der resultiert nicht nur aus dem achtsamen Umgang mit den Pferden und dem Spiel zwischen Mensch & Tier. Die Narration verbindet Genre-Versatzstücke mit jenen hochemotionalen authentischen Momenten, aber auch mit einem knappen alltagsnahen Umgangston, und das ästhetische Herzstück ist die dramaturgische Dichte, die nichts dem Zufall überlässt und die man als Zuschauer erst im Verlauf der Handlung zu schätzen lernt. Das Ganze ist konzentriert & flüssig inszeniert und besitzt – das Wichtigste zum Schluss – eine Heldin zum Verlieben, für deren gewinnende Art & wilde Natürlichkeit Klara Deutschmann alles mitbringt!

Mit Pferden kann Rike (Klara Deutschmann) besser als mit ihrer Sippe. Aus einem Austauschjahr in den USA kehrte sie deshalb nicht auf den Reiterhof ihrer Eltern zurück. Das war vor 13 Jahren. Jetzt ist sie zur Beerdigung ihres Vaters heimgekehrt – aber nur für ein paar Stunden. Auch wenn es der Vater war, der sie aus dem Haus trieb, so spürt sie doch noch immer den kalten Schatten ihres Erzeugers, der den Zucht- und Turnierbetrieb mit harter Hand gegen Mensch und Tier führte. Ihre Mutter Elsa (Ulli Maier) ließ nie allzu viel Nähe zu, und ihrem älteren Bruder Ferdinand (Shenja Lacher), beide als Kind noch ein Herz und eine Seele, hat der Hof kein Glück gebracht. Wildenstein ist hoch verschuldet. Die letzte Rettung ist der Hengst Jacomo, ein ebenso teures wie wildes Dressurpferd, das schnellstmöglich Preisgelder einbringen muss. Ranch-Besitzerin Rike, die sich in den Staaten durch ihren sanften Umgang mit Pferden einen Namen gemacht hat, will mit alldem nichts mehr zu tun haben. Denn obwohl Ferdinand von seinem Vater ein Leben lang gedemütigt wurde, tritt er in dessen autoritäre Fußstapfen. Doch dann verliert sie ihren Führerschein, sie verpasst ihren Flug, und schließlich sorgt das Testament für eine Überraschung. Die Mutter glaubt nun auch nicht länger, dass die „alte Schule“ mit Zwang und Peitsche die Zukunft vom Reiterhof Wildenstein sein sollte. Und so bleibt Rike – weniger, weil die Familie sie braucht, als vielmehr wegen dieses vermeintlich widerspenstigen Jacomo, in den sich die „Pferdeflüsterin“ verliebt hat.

Reiterhof Wildenstein – Die Pferdeflüsterin / Kampf um JacomoFoto: Degeto / Hendrik Heiden
Große Überraschung für alle Beteiligten: Hubert Merow (Gerd Anthoff) liest Ferdinand (Shenja Lacher), Elsa (Ulli Maier), Jesper (Florian Maria Sumerauer) und Rike (Klara Deutschmann) das Testament vor. Der Zuschauer ist weniger überrascht.

Der Plot-Anriss lässt die x-te Pferdezucht-Seifenoper befürchten. Und tatsächlich wird keine Erzählstereotype seichter Reiterhofserien und Familiendynastie-Soaps ausgelassen. Da gibt es die sinnlich-übersinnliche Heldin, den (wenn auch nicht ohne Grund) rüden Gegenspieler mit seinen hässlichen Winkelzügen, einen Bruder, der sich aus dem Zwist der Familie raushält (Florian Maria Sumerauer), natürlich gibt es ein Familiengeheimnis, selbstredend darf auch eine finanzielle Notlage, die den Wildensteins womöglich den Hof kostet, nicht fehlen; außerdem kommt ein alter Verehrer (Helmfried von Lüttichau) ins Spiel, der nach dem Tod des Patriarchen endlich zum Zuge kommt, und auch die junge Frau, die mit den Pferden tanzt, weckt nicht nur Begehrlichkeiten bei ihrem Jugendfreund (Alexander Khuon), der in ihrer Abwesenheit einst ihre beste Freundin (Claudia Hinterecker) schwängerte, sondern findet bald auch in einem Kommissar (Stefan Pohl) einen stillen Verehrer… Wer Filme nach Inhaltsangaben beurteilt oder sie als Summe seiner Teile versteht, der könnte bei der Bewertung von „Reiterhof Wildenstein“ leicht falsch liegen. Die ersten beiden Episoden, „Die Pferdeflüsterin“ und „Kampf um Jacomo“, leben von ihrer besonderen Mischung, der Art und Weise, wie in ihnen dieser nicht klischeefreie Mikrokosmos etabliert wird. Die Narration verbindet altbekannte Genre-Versatzstücke mit hochemotionalen authentischen Momenten und einem knappen alltagsnahen Umgangston, und das ästhetische Herzstück ist die dramaturgische Dichte, die man als Zuschauer erst im Verlauf der Handlung zu schätzen lernt.

„Viele Kinder haben mit Tieren eine ungefilterte, naive und direkte Art zu kommunizieren, die wir im Älterwerden verlernen. Ich denke, dass es nicht per se mit dem Geschlecht zu tun hat, ob Jungen oder Mädchen eine Verbindung zu Pferden haben. Dass vermeintlich gerade Mädchen ihre Zeit im Reitstall verbringen, liegt, glaube ich, zu großen Teilen an gesellschaftlichen Rollenbildern.“ (Klara Deutschmann)

Reiterhof Wildenstein – Die Pferdeflüsterin / Kampf um JacomoFoto: Degeto / Hendrik Heiden
Das ist nicht der übliche Dresscode auf dem Reiterhof. Rike (Klara Deutschmann) ist schließlich zur Beerdigung ihres Vaters heimgekehrt. Bis die Figur den geneigten Zuschauer an der Angel hat, ist es die Hauptdarstellerin, die die Sympathiepunkte sammeln muss.

Drehbuchautorin Andrea Stoll („Aufbruch in die Freiheit“) pflegt hier die hohe Kunst der klassischen Dramaturgie. Alle Figuren stehen in mehrfachen Beziehungen zueinander, jede Wendung der Hauptgeschichte tangiert immer auch gleich mehrere Nebenplots, und jedes Ereignis zieht vielfache Konsequenzen nach sich oder dient zur Spiegelung eines Charakters. Ein Beispiel: Sieht es so aus, als müsse Stoll zu Beginn einen Zufall bemühen, um die Heldin an der Abreise zu hindern, so betont dieser Zufall zugleich ihre Entschlossenheit: Nur höhere Gewalt kann sie vorübergehend auf dem Reiterhof halten. Rike verliert in dieser Szene ihren Führerschein, was dazu führt, dass die Mutter ständig Chauffeuse spielen muss. Das passt dazu, dass sie ihr Leben von nun an selber steuern will, obwohl sie alles andere als eine sichere Autofahrerin ist. Die Fahrten im BMW-Oldtimer spiegeln außerdem die wachsende Nähe zwischen Mutter und Tochter und sie ermöglichen interessante Gespräche zwischen den beiden. Und je öfter der Polizist, der Rike den Führerschein abgenommen hat und damit ihr Schicksal, zu bleiben, besiegelte, künftig ihre Wege kreuzt, umso mehr lässt sich da eine dramaturgische Fügung erkennen. Bereits in der ersten Episode gratuliert er ihr überraschend zu ihrem Turniersieg. Sie: „Sie interessieren sich für Pferde?“ Er: „Eigentlich nicht.“ Am Ende der zweiten Episode lädt er die Heldin schließlich zum Abendessen ein. Die gute Vernetzung der verschiedenen Plots fällt vor allem im etwas handlungsintensiveren zweiten Film ins Auge: Pferde als Seelenretter, Gefühlskatalysatoren, ein krankes, durchgehendes Pferd, Eltern in der Krise, ein Mädchen mit Essstörungen, ein anderes (Nele Trebs), das sich ritzt, weil es glaubt, so die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen, eine Lebenslüge, ein mieser Trick des Bruders, der Verlust von Jacomo: Man könnte vermuten – das ist zu viel für 90 Minuten, jedoch belehrt Stoll den Kritiker eines Besseren. Und auch Regisseurin Vivian Naefe („Einer geht noch“ / „Leo“ / die Kino-Reihe „Die Wilden Hühner“) und ihr Stammkameramann Peter Döttling verstehen es, die Geschichten konzentriert und flüssig zu erzählen und ohne übermäßige visuelle Kitscheinlassungen ins genregerechte Licht zu setzen.

„Das Schönste und gleichzeitig Herausforderndste an der Arbeit mit Pferden ist ihre Unmittelbarkeit. In den seltensten Fällen machen sie zweimal das Gleiche. Somit bleiben die Szenen natürlich situativ und pur, und wir mussten spontan mit dem neuen Spielangebot der Pferde umgehen. Für die Anschlüsse und die technische Umsetzung konnte es aber auch ganz schön anspruchsvoll sein.“ (Klara Deutschmann)

Reiterhof Wildenstein – Die Pferdeflüsterin / Kampf um JacomoFoto: Degeto / Hendrik Heiden
„Das einzige Pony, das sich nicht dressieren lassen wollte.“ Kommissar Jan Meier (Stefan Pohl) weiß über Rike (Klara Deutschmann) Bescheid und spielt Schicksal.

Die kluge Verzahnung der Geschichten ist der dramaturgische Unterboden, der von vielen  Zuschauern wahrscheinlich nicht bewusst wahrgenommen wird, der aber unterschwellig die Rezeption nicht unwesentlich mitbestimmen dürfte. Es ist anzunehmen, dass noch entscheidender für die Lust des geneigten Zuschauers an dieser Reihe das ist, wovon „Reiterhof Wildenstein“ in erster Linie erzählt: die Pferde, der achtsame Umgang mit diesen edlen Geschöpfen, die Interaktion zwischen Mensch und Tier und deren therapeutischen Möglichkeiten. Verkörpert werden dieser andere Blick und die empfindsame Wesensart von der Hauptfigur, einer jungen Frau, die ihre eigenen „Dressur“-Regeln hat. Männer stehen bei ihr bislang nur in der zweiten Reihe. „Ich will gar nichts von dir“, sagt sie ihrer Jugendliebe, und ihren Lebenspartner lässt sie allein nach Montana zurückfliegen. Diese Frau wird durch ihre große Liebe zu den Pferden charakterisiert, und Jacomo ist ihre Nummer 1. Und so klingt denn auch das, was sie ihrem Hengst ins Ohr flüstert, von „Du bist unglaublich“ bis „Wir bleiben zusammen“, ganz schön verliebt. Aber nicht nur deshalb ist diese Rike ein so erfrischend anderer Frauentypus, als er sonst üblich ist auf den frauenaffinen Unterhaltungsfilm-Sendeplätzen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Endlich mal eine weibliche Hauptfigur, für die es nicht das höchste der Gefühle ist, anderen zu helfen. Diese Frau weiß, was sie will, sie hat ihren Kopf und sie hat ihre Visionen. Und das wofür sie kämpft, das macht sie sympathisch. So folgt man dieser emotional intelligenten Pferdeversteherin ohne jede Einschränkung. Vielleicht auch, weil sie sich anfangs selbst so verhält, wie es Pferde tun: Sie wittert Gefahr und sucht die Flucht.

Was wäre dieser für sich einnehmende, komplexe Charakter ohne seine Darstellerin. Mit wallender Mähne und kessem schwarzen Mini holt Rike in der ersten Szene den flüchtigen Problemhengst von der Straße. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick. Aber auch als (unvoreingenommener) Zuschauer hat man kaum eine Wahl, sich dieser Figur zu entziehen. Zuerst ist es Klara Deutschmann, die einen bezaubert, mit dem Einstieg in die Geschichte drängt sich dann die eigenwillige Figur in den Vordergrund, aber es ist auch immer wieder diese (gespielte?) Natürlichkeit, die dieser Figur ihre Lebendigkeit und Sensibilität einhaucht. Ihr Lächeln, ihre Freude, ihre Tränen, ihr kleiner Rausch, der Versuch, versöhnliche Töne bei ihrem Wut-Bruder anzuschlagen, oder andere Situationen, in denen es ernst wird, Entschuldigungen, aber auch Momente leichter Verunsicherung – keine dieser Stimmungslagen wirkt bei Deutschmann gespielt. Ihre Rike ist eine Figur, die für ihr Alter reif ist und meist in sich ruht. Und genau das glaubt man in jedem Gesichtsausdruck, jeder kleinen Geste auch ihrer Darstellerin zu entdecken. Und noch eine für den Film besonders wichtige Qualität bringt die Schauspielerin mit: Sie ist mit Pferden groß geworden, sie reitet vorzüglich, sie kennt die harte und die weiche Schule, und sie hat tatsächlich ein Händchen für diese sensiblen Fluchttiere. So musste wenig getrickst werden, die Einstellungen zwischen Mensch und Tier sind relativ lang, und wenn die Schauspielerin ohne Sattel auf Jacomo liegt, bestätigt sich der Eindruck, dass Pferde die verlässlicheren Partner sind. (Text-Stand: 20.4.2019)

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Reihe

ARD Degeto

Mit Klara Deutschmann, Shenja Lacher, Ulli Maier, Gerd Anthoff, Stefan Pohl, Alexander Khuon, Nele Trebs, Florian Maria Sumerauer, Claudia Hinterecker, Susu Padotzke, Pierre Kiwitt, Mia & Delphine Lohmann

Kamera: Peter Döttling

Szenenbild: Patrick Steve Müller

Kostüm: Sylvia Risa

Schnitt: Georg Söring

Musik: Birger Clausen

Redaktion: Sascha Mürl, Sascha Schwingel

Produktionsfirma: Neue Bioskop Television

Produktion: Christian Balz, Dietmar Güntsche

Drehbuch: Andrea Stoll

Regie: Vivian Naefe

Quote: (1): 4,27 Mio. Zuschauer (14,4% MA); (2): 4,04 Mio. (14,3% MA)

EA: 10.05.2019 20:15 Uhr | ARD

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