Aus einem Bordell-Besuch wird ein Gang nach Canossa. Wall (Hanns Zischler) plagen Gewissensbisse. Der honorige Jura-Professor vermutet, dass ausgerechnet seine begabteste Studentin wegen ihm an der Uni das Handtuch geschmissen hat und nun eine „Karriere“ als Prostituierte anstrebt. Die Nummer 1 zu sein in der Kategorie Massage in diesem angeblichen Vorzeige-Etablissement bringt der jungen Frau, die sich im Dienst Aurelie (Emilia Schüle) nennt, offenbar mehr für ihr Ego als ein abgebrochenes Referat mit null Punkten. Wall möchte sie allerdings davon überzeugen, dass sie ihr Studium wieder aufnehmen solle. Aurelie lässt ihn auflaufen. Dann ergreift sie zunehmend die Initiative. Die beiden kommen zunächst auf das unglückselige Fallbeispiel aus dem Seminar zu sprechen. Eine Frau habe offensichtlich aus Liebe ein Geständnis abgelegt und sich eines Banküberfalls bezichtigt. Doch der Richter habe das Geständnis, obwohl es den Zeugenaussagen wiedersprach, nicht infrage gestellt. Je länger sie reden, umso persönlicher werden die Angriffe. Auch Walls gestörte Beziehung zu seinem Sohn, der über eine Casting-Show eine gewisse Popularität erzielt hat, werden Thema. Und der hat in Kollegin Susie (Katrin Wichmann) seinen größten Fan. Nur, Bordell-Chefin Astrid (Petra Kleinert) findet es gar nicht lustig, dass Wall zwei Frauen auf dem Zimmer hat.
Foto: Degeto / Wolfgang Film
Auch wenn der Umgangston kultiviert bleibt, so geht es in dem ARD-Kammerspiel „Prof. Wall im Bordell“ im Verlauf der 83 Minuten mehr und mehr zur Sache. Das Gespräch zwischen dem Professor und seiner ehemaligen Studentin entwickelt sich von einem mauligen Geplänkel hin zu einem juristischen Diskurs mit provokanten Einwürfen, bis es schließlich die Form einer Gerichtsverhandlung annimmt. Das Ego des selbstgefälligen Professors wird auf Normalmaß geschrumpft. Genüsslich führen das seit Jahren eingespielte, Grimme-gekrönte Duo Autor Daniel Nocke und Regisseur Stefan Krohmer vor, wie diesem akademischen Pfau die Flügel gestutzt werden – und das ausgerechnet auf dem Feld, auf dem er unschlagbar zu sein scheint: der Sprache, der Logik, dem Recht, der Gerechtigkeit. Wall, der weltgewandte Entscheider, ein Mann der Hochkultur, mag ein Stück weit für die Verlogenheit (s)einer Generation stehen, ein Achtundsechziger, der sich gefällt in seiner Rolle als gesellschaftliche Autorität. Dies bleiben Mutmaßungen. Seine Gewissensbisse indes will man dem Mann anfangs durchaus glauben. Das liegt auch an der (vermeintlichen) Eleganz, mit der Hanns Zischler diesen Wall verkörpert, und der großen Eloquenz der Figur. Andererseits: Was, wenn diese Ex-Studentin (präzise in Spiel & Körpersprache: Emilia Schüle) nicht so ausnehmend attraktiv wäre? Und überhaupt, dass Aurelie Wall auf der Bordell-Website zufällig begegnet sei, die er natürlich aus rein arbeitsrechtlich-ethischen Gründen besucht habe, bedeutet schließlich, er muss sich durch 80 Fotos anderer Kolleginnen durchgeklickt (und sich, wie Aurelie vermutet, „einen Ständer“ geholt) haben. Und dies, obwohl er bereits das erste Foto extrem demütigend für die Frau empfunden habe. Aurelie fand etwas anderes demütigend: wie er seine „förderungswürdigste Studentin“ vor ihren Kommilitonen vorgeführt habe.
Foto: Degeto / Wolfgang Film
Gewissenbisse treiben den Mann in den Puff. Am Ende taumelt er unter noch größeren Schuldgefühlen aus dem Lust-Etablissement. Anfangs ist die hübsche Prostituierte ganz Körper, während er sich ganz auf seinen Kopf verlässt. „Eigentlich bin ich gewohnt, meinen Gesprächspartner anzuschauen“, sagt er. „Sie sehen ja meinen Arsch“, kontert sie frech, und während er ununterbrochen redet, räkelt sie sich, ist aber auch nicht auf den Mund gefallen. Und irgendwann zieht die in sexy Reizwäsche Gewandete einen Morgenmantel über – und schaltet ihr Hirn ein. Jetzt verliert der Professor immer öfter den Faden. Daniel Nocke führt dem Zuschauer einmal mehr vor, was Sprache alles vermag: Mit ihr lässt sich Vergangenes erzählen, sie kann für Ironie und Komik sorgen, einen rhetorisch-ästhetischen Beitrag leisten, und natürlich charakterisiert sie die Figuren, betont deren Aussetzer. Im Falle von Wall und Aurelie wird einem altmodischen Sprachstil eine saloppe junge Sprache entgegengestellt. Das Altehrwürdige trifft auf die Generation Porno; geistreich können beide sein. Der Zuschauer, der von Kraft der Worte entwöhnt ist, muss sich einhören in dieses beredte Kammerspiel, in dem die Titelfigur nur zwei Mal kurz den Schauplatz Puff verlässt (um sich beide Male arrogant und autoritär aufzuspielen). In der zweiten Hälfte nimmt das Gespräch überraschende Wendungen an; Fußball inklusive einer bulgarischen Stürmer-Legende und Walls Sohn, der Casting-Star, kommen ins Spiel und Katrin Wichmann als bumsfidele Susie sorgt für allerhand Lacher. Zuvor hatte Wall sich noch über deren Klischeekonversation lustig gemacht: „War das schön, auch für dich?“, fragte der Dauerrammler von nebenan, nachdem er endlich gekommen war. „Dass ein Mann für eine Lüge zahlt und dann noch an sie glaubt“, das bringt Wall zum Schmunzeln. Die Lüge der Angeklagten im Fallbeispiel an der Uni hat im Übrigen auch keiner hinterfragt. Und es wird wohl nicht die letzte Lüge bleiben… (Text-Stand: 4.10.2019)